Mittwoch, 19. Januar 2011

TEIL 9


4.3. Kritik der marxschen Philosophie der Geschichte
Im vorigen Kapitel schrieb ich, dass Castoriadis nicht nur ein Versagen des Marxismus bzw. der marxschen Geschichtstheorie, sondern den Theorietypus, zu dem die marxsche Geschichtstheorie gehört, feststellt. Aus diesem Grund untersuche ich an dieser Stelle Castoriadis‘ Kritik an der marxschen Geschichtsphilosophie.
Die marxsche Geschichtsphilosophie stellt für Castoriadis nicht einen Anhang der marxschen Theorie dar, sie bildet vielmehr „das notwendige Fundament sowohl der Theorie der geschichtlichen Vergangenheit als auch der politischen Konzeption, der revolutionären Perspektive und des revolutionären Programms“[1] von Marx.

4.3.1. Der objektivistische Rationalismus
Die marxsche Geschichtsphilosophie betrachtet Castoriadis als einen objektivistischen Rationalismus, der – wie alle rationalistischen Philosophien – „mit jedem Problem, das [er] aufwirft, sich die Lösung schon vorgibt.“[2]
An der Anwendung der marxschen Geschichtstheorie auf die geschichtliche Vergangenheit kann man sehen, wie der Gegenstand der Geschichtserkenntnis als Naturgegenstand behandelt wird. Dabei orientiert sich Marx stark an den Naturwissenschaften. In der marxschen Geschichtsphilosophie wirken Kräfte „auf bestimmte Angriffspunkte und erzielen einem umfassenden Kausalschema gemäß vorherbestimmte Wirkungen.“[3] Marx bedient sich dieses Kausalschemas, so Castoriadis,  um sowohl die geschichtliche Statik als auch die geschichtliche Dynamik zu erklären.[4] Sowohl die vergangenen als auch die heutigen und zukünftigen Gesellschaften entsprechen der marxschen Geschichtsphilosophie nach den Bewegungsgesetzen der Geschichte, „insofern alle Ereignisse auf Ursachen zurückkehren, die jenen vollkommen entsprechen und die unserer Vernunft […] restlos durchsichtig sind.“[5]
Castoriadis behauptet, dass die Geschichte aus marxscher Sicht in dreierlei Sinne rational ist: Erstens entspricht sie – wie oben dargestellt – einem rationalen Kausalschema, das durch die menschliche Vernunft vollkommen zu begreifen ist. Zweitens ist auch die zukünftige Geschichte rational, da sie nach Marx sein wird, was sie sein soll, also eine rationale Gesellschaft hervorbringen wird, in der sich die Hoffnungen der Menschen verkörpern und die Existenz des Menschen seinem Wesen entsprechen wird. Drittens schlägt sich die Rationalität der Geschichte im Vorhandensein der historischen Gesetze nieder, die Vergangenes und Künftiges durch ein Kausalschema verknüpfen, an dessen Ende auch das Ende der Geschichte, der Kommunismus, steht: In dieser Geschichtsphilosophie ist allen Dingen eine Vernunft immanent, die das Auftauchen einer freien Menschheit gewährleistet und mit der menschlichen Vernunft „in wunderbarer Harmonie steht.“[6]
Schließlich sieht Castoriadis  den Hegelianismus in der marxschen Geschichtsphilosophie nicht als überwunden. Vielmehr gelte der hegelsche Satz „was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“[7] auch für die marxsche Theorie und könne sogar im Hinblick auf die Zukunft erweitert werden.[8]
„Die List der Vernunft“, die Hegel in der Geschichte am Werk sieht,[9] wohnt also auch der marxschen Geschichtsphilosophie inne. Sie garantiert, dass die Vergangenheit begreifbar und die Zukunft wünschbar ist, und sorgt dafür, dass die scheinbar blinde Notwendigkeit der Fakten insgeheim daran arbeitet, das Gute in die Welt zu bringen.

4.3.2. Der Determinismus
Wenn die marxsche Geschichtsauffassung den Anspruch erhebt, ein vollständiges und systematisches Wissen über die geschichtliche Vergangenheit zu liefern, bedeutet dieser Anspruch Castoriadis zufolge, dass Marx damit einen kausalen Determinismus ohne wesentliche Lücken unterstellt.[10] Gleichzeitig soll dieser Determinismus Bedeutungen tragen, die sich zu Bedeutungsganzheiten zusammenschließen.
Castoriadis streitet zwar weder das Vorhandensein noch die Bedeutung der Kausalität für die Geschichte: „Sicherlich können wir Geschichte ohne die Kategorie der Kausalität nicht denken.“[11] Für das Vorhandensein der Kausalität im gesellschaftlichen und geschichtlichen Leben nennt Castoriadis zwei Gründe: Erstens enthält das Leben subjektive Rationalität, d.h. Menschen machen vernünftige Pläne und handeln entsprechend. Zweitens enthält Geschichte objektive Rationalität, d.h. natürliche Kausalbeziehungen treten in ihr auf.[12] Neben den zwei oben genannten Typen der Kausalität sieht Castoriadis in der Geschichte auch einen dritten Typus, die rohe Kausalität am Werk: „Korrelationen, deren Grundlage wir nicht kennen, Regelmäßigkeiten im individuellen und gesellschaftlichen Verhalten, die bloße Tatsachen bleiben.“[13]
Dass aber Kausalbeziehungen in der Geschichte stets präsent sind, bedeutet für Castoriadis nicht, dass sie in Kausalketten aufgehen würde. Mit Hilfe der oben genannten Kausalbeziehungen lassen sich Gesetze formulieren, mit deren Hilfe wiederum befriedigende Prognosen entwickeln lassen, die zu einem bestimmten Wahrscheinlichkeitsgrad eintreffen. Diese partiellen Dynamiken lassen sich aber nicht zu einem Determinismus des Gesamtsystems vereinheitlichen, weil nur einige Aspekte des gesellschaftlichen und geschichtlichen Lebens quer durch das soziale Gefüge dem Determinismus unterworfen sind, wobei das Ganze des Gesellschaftlichen und Geschichtlichen nicht-deterministisch ist.
Den Grund für die Nicht-Determiniertheit des Gesellschaftlichen und Geschichtlichen sieht Castoriadis nicht in der Komplexität der sozialen Materie, also darin, dass die Kausalbeziehungen beständig wechselseitig aufeinander verweisen und jede Veränderung in einer davon alle anderen auch verändert, denn die durch die Kausalbeziehungen formulierbaren Gesetze gelten – genauso wie die naturwissenschaftlichen Gesetze – ceteris paribus; also was sich in der Praxis als problematisch erweist, bildet kein prinzipielles Hindernis für die Theoretisierbarkeit.
Diese Nicht-Determiniertheit ist aus dem Umstand zu erklären, dass das Geschichtliche und Gesellschaftliche als wesentlichen Bestandteil Nicht-Kausales enthalten. Das Nicht-Kausale erscheint für Castoriadis auf zwei Ebenen: Die erste ist die Diskrepanz zwischen dem wirklichen Verhalten des Individuums (oder der Gruppe) und dem typischen Verhalten. Allerdings bildet diese erste Ebene nicht den Grund für die Unmöglichkeit einer absoluten Reduktion der Geschichte auf ein deterministisches Schema, denn diese Abweichungen lassen sich entweder kausal untersuchen – etwa wenn sie systematisch auftauchen, oder zumindest statistisch erfassen – wenn sie zufällig auftreten.
Die zweite Ebene, auf der Nicht-Kausales auftritt, ist schöpferisches Verhalten.[14] Das schöpferische Verhalten der Individuen, Gruppen, Klassen oder ganzer Gesellschaften stellt für Castoriadis nicht nur eine Abweichung vom einen bestehenden Verhaltenstyp dar, sondern die „Setzung eines neuen Verhaltenstyps; […] Institution einer neuen gesellschaftlichen Regel, Erfindung eines neuen Gegenstands oder einer neuen Form.“[15] Auf dieser zweiten Ebene erweist sich das Nicht-Kausale als von dem Gegebenen Nicht-Ableitbares, als einen Schluss, der seine Prämissen übersteigt bzw. neue aufstellt. Die Rolle der Schöpfung ist nach Castoriadis für historische Entwicklung so wesentlich, dass die Geschichte weder nach einem deterministischen Schema noch nach einem dialektischen Muster gedacht werden kann.


[1] Ebd. S. 72.
[2] Ebd.
[3] Ebd. S. 73.
[4] Mit „geschichtlicher Statik“ meint Castoriadis die Herausbildung und das Funktionieren bzw. Weiterbestehen einer Gesellschaft, während er die „geschichtliche Dynamik“ für das Ungleichgewicht einer Gesellschaft und die Umwälzungen, die zu einer neuen Form der Gesellschaft führen, steht.
[5] Ebd.
[6] Ebd. S. 74.            
[7] Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt a.M. 1986. S. 24.
[8] Dies erklärt sich dadurch, dass die historische Dialektik für Hegel im Augenblick des Auftretens seiner Philosophie endet, während Marx sie in die Zukunft bis zum Auftreten der kommunistischen Gesellschaft verlängert.
[9] Vgl. Eisler, Rudolph: Philosophen-Lexikon: Leben, Werke und Lehren der Denker. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm. Zürich 1977. 
[10] An einer anderen Stelle schreibt Castoriadis über den Umfang des marxschen Geschichtsdeterminismus: „Strenggenommen müsste man sagen: [Der Determinismus bestimmt] bis in alle Einzelheiten, Punkt. Ein Determinismus ist nur als durchgängiger Determinismus sinnvoll; selbst das Timbre der Stimme des faschistischen Demagogen oder des Arbeiterführers müsste aus den Systemgesetzen folgen. In dem Maße, wie das unmöglich ist, flüchtet sich der Determinismus gewöhnlich hinter die Unterscheidung zwischen ‚Wichtigem‘ und ‚Sekundärem‘. Clemenceau hat der Politik des französischen Imperialismus einen besonderen persönlichen Stil gegeben, aber auch ohne diesen wäre die Politik – jedenfalls in allen wichtigen Aspekten, in ihrem Wesen – ‚dieselbe‘ geblieben. So teilt man die Wirklichkeit in eine vorrangige Schicht, in der alles Wesentliche passiert, in der die kausalen Prämissen und Resultate des betrachteten Ereignisses feststellbar sind, und eine zweite Schicht, in der solche Zusammenhänge nicht bestehen oder bedeutungslos sind. So kann sich der Determinismus nur dank einer erneuten Teilung der Welt halten. Auch wenn er seiner Idee nach die Einheit der Welt anvisiert, ist er bei seiner Anwendung gezwungen, einen ‚nicht determinierten‘ Teil der Wirklichkeit anzunehmen.“ (Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 54.)
[11] Ebd. S. 75.
[12] Castoriadis nennt Beispiele für die zwei Typen der Rationalität im gesellschaftlichen und geschichtlichen Leben. Subjektive Rationalität: „[D]ie Schlachtordnung der karthagischen Truppen bei Cannae (und ihr Sieg) folgte einem vernünftigen Plan Hannibals.“ Objektive Rationalität: „[U]nter bestimmten technischen und ökonomischen Bedingungen stehen Stahlerzeugung und Kohleförderung in einem konstanten und qualifizierbaren (allgemeiner gesagt: funktionellen) Zusammenhang.“  (Ebd.)
[13] Ebd. S. 76.
[14] An dieser Stelle gehe ich nicht ausführlich auf den castoriadisschen Schöpfungsbegriff ein, da dieser unten behandelt werden wird.
[15] Ebd. S. 77. (Hervorhebung im Original).

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