Dienstag, 4. Januar 2011

TEIL 2


4. Die castoriadissche Marxkritik
Verabschiedete sich Castoriadis durch die Schriften „Über den Inhalt des Sozialismus“ und „die revolutionäre Bewegung im modernen Kapitalismus“ vom Marxismus, so endete seine Kritik am Marxismus nicht damit. Seine Kritik am Marxismus, einschließlich den Grundsätzen der marxschen Philosophie und Theorie, die als ein Erneuerungsversuch begann und sich ab Mitte der 50er Jahre in eine offensivere Kritik verwandelte und letztendlich am Ende der Dekade in eine Ablehnung mündete, baute Castoriadis in den 70er Jahren – vor allem in „Gesellschaft als imaginäre Institution“, einem seiner Hauptwerke – weiter aus.[1]
Zwischen der Auflösung von Socialisme ou Barbarie im Jahre 1967 und der Erscheinung von „Gesellschaft als imaginäre Institution“ im Jahre 1974 veröffentlichte Castoriadis relativ wenig. In diesem Zeitraum beschäftigte er sich zunehmend mit Psychoanalyse, aber auch mit seiner Kritik am marxschen Werk, vor allem an der „ökonomischen Analyse, der Gesellschaftstheorie, der Geschichtsdeutung, der politischen Perspektive und deren philosophischen Voraussetzungen, letztlich an der Relation zwischen all dem und auch deren Einheit, auf die Marx letztlich abzielt.“[2]
In diesem Teil befasse ich mich mit der castoriadisschen Kritik an Marx‘ Werk. Als erstes gehe ich auf die Kritik an der marxschen politischen Ökonomie. Castoriadis vertritt die Meinung, dass keine systematische und vollständige ökonomische Theorie des Kapitalismus entworfen werden kann. Jeder Versuch, eine solche Theorie zu entwerfen, muss laut Castoriadis scheitern, da einerseits Momente, die nicht in der Ökonomie aufgehen bzw. nicht auf die Ökonomie zurückzuführen sind, das Gesellschaftlich-Geschichtliche wesentlich beeinflussen, und andererseits der Kapitalismus ständig ökonomische Metamorphosen durchmacht.
Als zweites beschäftige ich mich mit der Kritik der marxschen Theorie der Geschichte. Da Ökonomie den Kern der marxschen Theorie der Geschichte ausmacht, vertrete ich die These, dass die kategorische Ablehnung der marxschen politischen Ökonomie auch die Kritik an der marxschen Geschichtsauffassung (mit-)begründet. Die materialistische Theorie von Marx bedarf laut Castoriadis stabiler Beziehungen zwischen stabilen Existenzen, die bei Marx ökonomisch begründet sind. Aus diesem Grund stellt die Kritik an den ökonomischen Analysen von Marx, die eine Instabilität ökonomischer Faktoren feststellt, die wesentlich für die marxsche politische Ökonomie sind, ein begründendes Moment der castoriadisschen Kritik an der materialistischen Geschichtsauffassung von Marx.
Als drittes erläutere ich die castoriadissche Kritik an der marxschen Geschichtsphilosophie. Castoriadis betrachtet den marxschen historischen Materialismus als szientistischen objektiven Rationalismus und untersucht dessen Auswirkungen auf die marxsche Geschichtsauffassung. Nach der castoriadisschen Betrachtungsweise stellt die marxsche Geschichtsphilosophie einen Determinismus dar, während für Castoriadis die Geschichte nicht in Kausalitätsbeziehungen aufgeht. Die Dialektik, die Marx von Hegel übernommen hat, setzt, so Castoriadis, sowohl bei ersterem als auch bei letzterem die rationale Bestimmtheit des Ganzen voraus. Diese rationale Bestimmtheit und der sich daraus ergebende Optimismus sind für Castoriadis auch das Metaphysische am Marxismus.
Abschließend gehe ich auf die Antinomie des Marxismus ein: Castoriadis behauptet, dass dem Marxismus ein Widerspruch zwischen spekulativen, szientistischen Momenten und dem revolutionären Moment innewoht. Beide Momente seien bereits schon im frühen Werk von Marx vorhanden, aber durch die Zunahme des Gewichts des szientistischen und dessen graduellen Sieg über den revolutionären Moment bleibe der Marxismus in den bürgerlichen Kategorien befangen. Dies habe das Eindringen kapitalistischer Werte in die revolutionäre Arbeiterbewegung und deren Bürokratisierung und Integration begünstigt.


[1] Die erstmals in „Gesellschaft als imaginäre Institution“ vollständig gedruckte Kritik geht ursprünglich auf einen Text mit dem Titel „Notizen über die marxistische Philosophie und Geschichtstheorie“ zurück. Dieser wurde nach fünfjährigen internen Diskussionen und weiterer Bearbeitung durch Castoriadis 1964/1965 unter dem Titel „Marxismus und revolutionäre Theorie“ in Socialisme ou Barbarie teils abgedruckt. Da aber die Erscheinung der Zeitschrift eingestellt wurde, konnte der Text nicht vollständig veröffentlicht werden. Erst nach weiterer Bearbeitung ergab sich der erste Teil von „Gesellschaft als imaginäre Institution“, der mit Castoriadis‘ Worten „eine vorläufige Bilanz des Marxismus“ darstellt. (Vgl. Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt 1997, S. 9-15.)
[2] Tassis, Theofanis: Cornelius Castoriadis: Eine Disposition der Philosophie. S. 115.

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