Mittwoch, 19. Januar 2011

TEIL 8


4.2. Kritik der marxschen Theorie der Geschichte
Die castoriadissche Kritik an der marxschen politischen Ökonomie geht seiner Kritik an der marxschen Geschichtsphilosophie und –theorie nicht nur historisch gesehen voraus, sondern macht auch philosophisch den Boden für die letzteren reif. Dies erklärt sich einerseits dadurch, dass Marx‘ Ökonomietheorie den Grundstein seiner Geschichtstheorie darstellt, d.h. seine ökonomische Kapitalismusanalyse ein hervorragendes Beispiel für die konkrete Anwendung der marxschen materialistischen Geschichtsauffassung ist.[1] Andererseits lässt der Schluss, den Castoriadis aus seiner Auseinandersetzung mit der marxschen politischen Ökonomie zieht, nämlich dass eine systematische und vollständige ökonomische Theorie des Kapitalismus unmöglich ist, da Faktoren wie Klassenkampf und technologische Entwicklung, die nicht gänzlich auf das Ökonomische zurückzuführen sind, eine wichtige Rolle bei Transformationen des Kapitalismus inne haben, zu Ende gedacht eine Geschichtsauffassung nicht zu, bei der der „Unterbau“, also die Entwicklung der materiellen Produktivkräfte und -verhältnisse als eine ökonomische Kategorie, über den „Überbau“, also rechtliche und politische Institutionen, Kultur etc.,  bestimmend ist.
Bei der Analyse von Castoriadis‘ Kritik an der marxschen Theorie der Geschichte werde ich zunächst auf seine Kritik am marxschen Determinismus eingehen: Castoriadis erweitert seine Kritik an der marxschen ökonomischen Analyse des Kapitalismus und stellt das marxsche Konzept der Ökonomie als einer autonomen Sphäre im Allgemeinen in Frage. Castoriadis zufolge dringt die bürgerliche Ideologie des 19. Jahrhunderts über die zentrale Stellung des Ökonomischen in die marxsche Geschichtstheorie und widerspiegelt sich in verschiedenen Aspekten jener wie der Projizierung der kapitalistischen Gesellschaft auf die Geschichte, der Vorstellung des Menschen als homo oeconomicus, dem Axiom, die Menschen hätten schon immer versucht, die Natur zu beherrschen und dem Fortschrittsmythos.
Marx zufolge bestimmt der Unterbau, womit die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse gemeint sind,[2] über den Überbau, also das politische und rechtliche System, die Religion, die Wissenschaften, die Künste und die übrigen gesellschaftlichen Verhältnisse, wobei im Wechselverhältnis zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen die ersteren die bestimmende Rolle spielen.[3]
Der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen bildet nach der marxschen Geschichtsauffassung den Nährboden für die historische Bewegung. Wenn die vorherrschenden Produktionsverhältnisse nicht mehr dem Entwicklungsgrad der Produktivkräfte entsprechen, werden die ersteren und der ihnen entsprechende „Überbau“ revolutioniert. Da das Denken der Menschen von den gesellschaftlichen Verhältnissen bestimmt wird, denen sie unterliegen, liegen Revolutionen keine politischen Ereignisse zugrunde, sondern sie sind ein Ausdruck einer historischen Zweckmäßigkeit aufgrund der Entwicklung der Produktivkräfte.[4]
Zu Zeiten einer Revolution, wenn die bestehenden Produktionsverhältnisse die Weiterentwicklung der Produktivkräfte zu hemmen begonnen haben, treten zwei Klassen gegeneinander: die revolutionäre Klasse, die die Produktionsverhältnisse radikal umwälzen und somit die Weiterentwicklung der Produktivkräfte ermöglichen will, und die herrschende Klasse, die für das Weiterbestehen der vorherrschenden Produktionsverhältnisse kämpft.[5]
Dieses Revolutionsmodell gilt für sowohl alle historischen Revolutionen als auch für die proletarische Revolution, die Marx kommen sieht. Die proletarische Revolution unterscheidet sich von allen bisherigen hauptsächlich darin, dass sie das Ende der Klassengesellschaften und daher auch der bisherigen Geschichte als „Geschichte der Klassenkämpfe“ mit sich bringen soll.
Zwar erkennt Castoriadis die grundlegende Bedeutung der marxschen Lehre an, weil sie „die tiefgreifende Beziehung in den Vordergrund rückt, die die Produktion und das übrige gesellschaftliche Leben eint.“[6] Allerdings bedeutet die Erkenntnis, die wir Marx zu verdanken haben, nämlich „dass jede Gesellschaft die Produktion ihrer materiellen Lebensbedingungen sicherstellen muss und dass alle Aspekte des Lebens zutiefst mit der Arbeit, mit der Organisationsweise der Produktion und der ihr entsprechenden gesellschaftlichen Teilung verknüpft sind“[7], nicht, dass die zentrale Bedeutung, die der Ökonomie als solcher von Marx zugesprochen wird, aufrechterhalten werden soll.
Wie ich im vorgehenden Kapitel dargestellt habe, lehnt Castoriadis die Möglichkeit einer vollständigen und systematischen ökonomischen Analyse des Kapitalismus ab. Die ökonomischen Verhältnisse sind nicht als ein autonomes System zu konstruieren, „dessen Funktionieren eigenen Gesetzen gehorchte, die von den übrigen gesellschaftlichen Beziehungen unabhängig wären“[8]. Neben dem Ökonomischen gibt es weitere Faktoren, die das gesellschaftliche Leben bestimmen und sich mit der Ökonomie in einem gegenseitigen Einflussverhältnis stehen. Obwohl die Ökonomie als Sphäre gesellschaftlicher Tätigkeit im Kapitalismus eine relative Selbstständigkeit erlangt hat, muss sie selbst im Kapitalismus eine Abstraktion bleiben, da die kapitalistische Gesellschaft nicht in dem Maße zu einer Wirtschaftsgesellschaft geworden ist, so dass man die übrigen gesellschaftlichen Beziehungen bei ihrer Analyse außer Acht lassen dürfte. Wenn man frühere Gesellschaften betrachtet, in denen die Ökonomie keine (oder zumindest eine weniger) zentrale Rolle inne hatte, wird es unmöglich, die Vorstellung der Ökonomie als einer autonomen und über alles andere bestimmenden Sphäre aufrechtzuerhalten.[9]
Zur Zielscheibe castoriadisscher Kritik werden nicht nur besonders deterministische Auslegungen der marxschen Geschichtstheorie, die unter anderem zur Entstehung der Sozialdemokratie beigetragen haben, sondern diese Kritik richtet sich an die axiomatischen Voraussetzungen der marxschen Theorie.[10]
Wenn das Ökonomische alleine nicht in der Lage ist, das Wesen des Kapitalismus zu bestimmen bzw. zu erklären, dann macht das die marxsche Geschichtsauffassung als Ganzes unhaltbar, in der das Gesellschaftliche einem vorbestimmten und zweckmäßigen zwischenmenschlichen Verhältnis gänzlich entspricht, das durch eine Geschichtsforschung im Hinblick auf die Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse aufgezeigt werden soll. Castoriadis zufolge führt die der Ökonomie von Marx zugeschriebene Rolle als „Motor der Geschichte“ zu einer deterministischen Auslegung der Geschichte.
Zwar sieht Castoriadis im marxschen Werk neben dem ökonomischen Determinismus auch ein zweites Erklärungsmodell für historische Entwicklung, den Klassenkampf als Methode der Menschen, ihre eigene Geschichte zu machen, aber diese zwei Erklärungsmodelle stellen für ihn zwei aufeinander nicht zurückführbare Momente dar. Schließlich können sie im Marxismus keine Synthese bilden, vielmehr werde der Klassenkampf vom ökonomischen Determinismus beseitigt.[11] Der Klassenkampf sei in der marxschen Geschichtstheorie nicht als einen eigenständigen Faktor zu sehen: „Er ist nur ein Kettenglied der kausalen Verbindungen, die jeweils eindeutig vom Stand der technisch-ökonomischen Basis ausgehen. Was die Klassen tun, was sie zu tun haben, wird ihnen jeweils von ihrer Stellung in den Produktionsverhältnisse zwangsläufig vorgeschrieben […] Tatsächlich sind die Klassen nur ein Werkzeug, in dem sich das Wirken der Produktivkräfte verkörpert.“[12]
In diesem Zusammenhang spricht Castoriadis von einem scheinbaren Widerspruch zwischen dem marxschen Determinismus und der Rolle des Klassenkampfes in der Geschichte.[13] Tatsächlich weisen Marx‘ Worte darauf hin, welches der beiden Momente in seiner Geschichtstheorie vorrangig ist: „Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird.[14]
Die historische Rolle des Proletariats ist ein Mythos, so Castoriadis, weil dadurch der Klassenkampf in Bezug zu einer immanenten Finalität interpretiert werde. Anstatt die Wirklichkeit in ein schematisches Denken zu pressen, müsse man die neuen Bedeutungen betrachten, die in und mit der Praxis einer gesellschaftlichen Gruppe auftauchen. Die richtige Methode für die Analyse des proletarischen Klassenkampfes sollte Castoriadis zufolge die Vertiefung in seine Wirklichkeit mit dem Ziel, die Tendenzen, die seinem Tun innewohnen, auszumachen und ihre Bedeutungen zu untersuchen.[15]
Dass Marx gegenüber dem impliziten und informellen Kampf der Arbeiter gegen die kapitalistische Rationalisierung im Produktionsprozess blind blieb, liegt laut Castoriadis einerseits daran, dass dieser Widerstand in quantifizierbaren, rein ökonomischen Kategorien nicht zu erfassen ist, und andererseits daran, dass Marx den kapitalistischen Pseudo-Rationalismus als einen objektiven betrachtet.[16]
Die zentrale Rolle, die die Ökonomie in der marxschen Theorie einnimmt, ist für Castoriadis auch hinsichtlich der Unmöglichkeit einer allen bisherigen und zukünftigen entsprechenden, klaren Aufgliederung menschlicher Tätigkeiten problematisch. Das marxsche Axiom, die historische Entwicklung ließe sich auf die Entwicklung der Produktivkräfte zurückführen, geht davon aus, dass die Ökonomie in jeder Gesellschaft als eine unabhängige Sphäre existieren würde. Castoriadis zufolge sind aber Sphären wie Ökonomie, Recht, Politik, Religion etc. weder in jeder Gesellschaft unterschieden noch unterscheidbar, da sie sich erst im Laufe der Geschichte relativ verselbstständigt haben. Das Ökonomische ist in dem Sinne, dass „schließlich […] jede Gesellschaft für ihr Leben produzieren und diese Produktion gesellschaftlich organisieren [muss]“[17], in gewisser Weise schon immer da, aber genau diese gewisse Weise „macht eben den Unterschied ums Ganze aus“[18]: Die Art der Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Faktoren und ihre jeweilige Gewichtung in diesen wird laut Castoriadis in jeder Gesellschaft neu geschaffen. Die Festlegung der Produktivkräfte als „Motor der Geschichte“ projiziert daher bestimmte Eigenschaften der kapitalistischen Gesellschaft wie eine relativ selbstständige ökonomische Sphäre und die vorherrschende Rolle der Produktionsverhältnisse auf die gesamte Menschheitsgeschichte.
Dabei wird „eine ungerechtfertigte Extrapolation [unternommen], die die Motivationen und Werte, die Bewegung und die Organisationsformen der gegenwärtigen Gesellschaft – genauer gesagt der kapitalistischen Hälfte der gegenwärtigen Gesellschaft – auf das Ganze der Geschichte ausdehnt.“[19] Dies bedeutet, dass der marxschen Geschichtstheorie neben den „unveränderlichen Verhältnissen zwischen unveränderlichen Größen“, die sowohl innerhalb der Ökonomie als auch zwischen ihr und den übrigen Sphären des gesellschaftlichen Lebens vorherrschen, ein weiteres Axiom innewohnt: das unveränderliche Wesen des Menschen als homo oeconomicus.
Nach dem historischen Materialismus wurden und werden Menschen in allen Gesellschaften aus ökonomischen Motiven bewegt. Der Grund für historische Entwicklung ist dabei die explizite oder implizite Bemühung aller Gesellschaften um die Weiterentwicklung der Produktivkräfte voranzutreiben und dadurch die Maximierung der Produktion und des Konsums zu ermöglichen. Wie Castoriadis schreibt, wird dabei eine Vielzahl von radikal unterschiedlichen Gesellschaften ignoriert: „Der Gedanke, der Sinn des Lebens bestehe in der Anhäufung und Erhaltung von Reichtümern, erschiene den Kwaikitutl-Indianern als Wahnsinn – sie häufen Reichtümer nur, um sie zerstören zu können. Und den Zuni-Indianern erschiene es völlig verrückt, nach Macht und Herrschaft zu streben; wer bei ihnen Stammeshäuptling werden soll, muss so lange geprügelt werden, bis er akzeptiert.“[20] Es sind laut Castoriadis nicht nur die „ethnologischen Kuriositäten“, die dem marxschen Schema widersprechen, sondern ein Großteil der Menschheitsgeschichte. Wenn die marxsche Theorie postuliert, überall sei die Entwicklung der Produktivkräfte bestimmend gewesen, so handelt es sich nicht nur um die Aussage, dass sich die Menschen schon immer ernähren mussten, da dies nichts darüber aussagt, warum sie nicht einfach Affen geblieben sind. Die marxsche Theorie postuliert aber gleichzeitig, „dass die Menschen stets über ihre biologischen ‚Bedürfnisse‘ hinausgegangen sind, dass sie sich andersartige ‚Bedürfnisse‘ geschaffen haben“.[21] Laut Castoriadis wird die marxsche Geschichtstheorie erst dadurch „zu einer Theorie, die von der menschlichen Geschichte handelt.“[22] Aber wenn wir Marx‘ Theorie folgen, so Castoriadis, sehen wir, dass es sich dabei um ein Menschenbild handelt, das schon von Geburt an einen Sinn des Lebens in sich tragen würde. Die biologischen Bedürfnisse oder den Selbsterhaltungstrieb darf man nicht zum roten Faden der Geschichte erklären, da diese jeder menschlichen Gesellschaft, sogar jeder lebenden Art überhaupt immanent sind. Und die Geschichte, die sich per definitionem ständig ändert, kann nicht auf der Permanenz eines Selbsterhaltungstriebs beruhen, der per definitionem immer derselbe bleibt. Die marxsche Geschichtsauffassung sei aber nichts anderes als eine Projizierung der Geschichte des Kapitalismus und des dem Kapitalismus entsprechenden Menschentypus, des homo oeconomicus, auf die ganze Geschichte. Die kapitalistische Gesellschaft und der homo oeconomicus sind aus castoriadisscher einander homologe geschichtliche Schöpfungen, die zeitgleich entstanden sind. Weder das eine noch andere hat schon immer existiert.[23]
Marx muss laut Castoriadis alles aus der Geschichte ausschließen, was sich nicht in den letzten Jahrhunderten auf einem schmalen Gebietsstreifen rings um Nordatlantik abgespielt hat, damit seine Geschichtstheorie für die ganze Menschheitsgeschichte gilt.[24]
Des Weiteren ist Castoriadis der Meinung, dass dem historischen Materialismus ein Idealismus innewohnt, der sich in der autonomen Entwicklung der Produktivkräfte ausdrückt. Da die Entwicklung neuer Technologien immer auf neuen Ideen beruhen muss, so Castoriadis, kippt der marxsche Anspruch, eine materialistische Geschichtstheorie auf der Grundlage der Entwicklung der Produktivkräfte zu entwickeln, in sein Gegenteil. Dem historischen Materialismus wohne Castoriadis zufolge „ein äußerst ungeschliffener und naiver Idealismus“ inne, da die marxsche Theorie versucht, die Gesamtheit der geschichtlichen Wirklichkeit auf das Wirken eines einzigen Faktors zurückzuführen, „der vom Übrigen notwendigerweise abstrahiert, der folglich ganz einfach abstrakt ist – und überdies zur Ordnung der Ideen gehört.“[25] An die Stelle philosophischer, politischer oder religiöser Ideen treten bei Marx technische Ideen.   
Durch seine Kritik an der marxistischen Geschichtstheorie kommt Castoriadis zu dem Schluss, dass nicht nur Marxismus, sondern der Theorietypus, zu dem er gehört, versage: Da es eine Voraussetzung der historischen Erkenntnis ist, dass nicht nur das Objekt, sondern auch das Subjekt der Erkenntnis historisch sein muss, ist kein durchsichtiges und geschlossenes Wissen über die Geschichte möglich.[26]
Die hegelsche Dialektik postuliere – unabhängig davon, ob sie auf Ideen oder Materien fußt – die Rationalität der Welt und der Geschichte. Der Versuch, die Relativität des historischen Wissens durch eine vermeintliche Sonderstellung der eigenen Perspektive, nämlich mit der Behauptung umzugehen, dass der Marxismus den Standpunkt des Proletariats wiedergebe und dadurch gegenüber der bisherigen Geschichte den wahren Standpunkt einnehmen könne, ändere nichts an der Historizität der marxschen Geschichtstheorie.[27] Der Anspruch, im Besitz von absolutem Wissen zu sein, bietet laut Castoriadis die Quelle im Marxismus, aus der der Stalinismus sich legitimieren und so die Massen an sich binden konnte.[28]
Die Relativität des historischen Wissens lasse sich nicht aus der Welt schaffen, da kein Mensch aus der Geschichte heraus treten kann. Das bedeutet aber für Castoriadis nicht, dass jede Theorie gleichmäßig wahr oder unwahr sein muss, sondern ein dieser Relativität entsprechender Theorietypus nötig ist.     
Meines Erachtens kommt der castoriadisschen Kritik der marxschen Geschichtstheorie das Verdienst zu, die Historizität der marxschen Perspektive klar darzustellen, ohne dabei das primäre Ziel des marxschen Werkes im Allgemeinen – die menschliche Emanzipation – aufzugeben und selbst den Anspruch zu erheben, eine vollständige und systematische Geschichtstheorie zu entwickeln. Durch die Enthüllung der marxschen Theorie als historisches Wesen, indem die Projizierung kapitalistischer Strukturen und der spezifisch kapitalistischen Denkweise aufgezeigt wird, stellt Castoriadis die Grenzen der historischen Erkenntnis dar. Das Bewusstsein darüber, die Geschichte aus einer bestimmten Perspektive, aus unserer gesellschaftlichen Realität, heraus zu betrachten, ermöglicht eine kategorische Kritik des Anspruchs auf absolutes Wissen über die Geschichte. Dies ist, wie auch Castoriadis schreibt, eines der dem Marxismus innewohnenden Momente, die zur Entstehung des Stalinismus beigetragen haben. Castoriadis‘ Konzeption, die Geschichte so zu untersuchen, dass die in ihr auftauchenden Kategorien (wie Strukturen und Bedeutungen) und die Beziehungen zwischen ihnen bezüglich einzelner Gesellschaften neu definiert werden, ermöglicht ein tiefergehendes und weniger dogmatisches Wissen über die Geschichte als es bei der marxschen Geschichtstheorie der Fall ist, so dass die Geschichte als das, was sie ist, als radikale Veränderung begriffen und untersucht werden kann und nicht nur das Objekt, sondern auch das Subjekt selbst zum Gegenstand der Untersuchung wird.


[1] Bereits Engels legte eine historisierende Lesart der marxschen ökonomischen Analyse nahe. In seiner Rezension von „zur Kritik der politischen Ökonomie. Erstes Heft“ schrieb er, die von Marx präsentierte „logische“ Darstellung der Funktionsweise des Kapitalismus sei „in der Tat nichts anderes als die historische, nur entkleidet der historischen Form und der störenden Zufälligkeiten.“ (Engels, Friedrich: Marx-Engels-Werke Band 13, S. 474.) Castoriadis selbst schreibt dazu: Die marxsche ökonomische Analyse des Kapitalismus „ist keineswegs bloß eine zufällige und nebensächliche empirische Anwendung auf ein einzelnes geschichtliches Phänomen, sondern der springende Punkt, um den sich die gesamte Theorie letztendlich dreht und an dem sie zeigen muss, dass sie nicht nur ein paar allgemeine Ideen vorzuweisen hat, sondern ihre eigene Dialektik mit der der geschichtlichen Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen weiß und aus der Bewegung des Wirklichen selbst die Grundlagen des revolutionären Handelns und seiner Orientierung herzuleiten vermag.“ (Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 29).
[2] Unter „Produktivkräften“ versteht man die Werkzeuge und Instrumente, mittels denen der Mensch auf die Arbeitsgegenstände einwirkt, und die Objekte, auf die eingewirkt wird (wie z.B. Rohstoffe) und die menschliche Arbeitskraft. Unter „Produktionsverhältnissen“ versteht man gesellschaftliche Verhältnisse, welche die Menschen in der Produktion und Verteilung materieller Güter miteinander eingehen. Nach Marx werden die Produktionsverhältnisse vom Entwicklungsgrad der Produktivkräfte festgelegt. (Vgl. Bauer, Walter: Lexikon der politischen Ökonomie. Nürnberg 1999, S. 182-183.)
[3] „Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewusstseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluss ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf.“ (Marx, Karl; Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten. In: Marx-Engels-Werke Band 3. Berlin 1969. S. 26.)
[4] Vgl. Marx, Karl: Zur Kritik der politischen Ökonomie. S. 9. In: Marx-Engels-Werke. Band 13. Berlin 1961, S. 7-160.
[5] Vgl. Ebd.
[6] Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 35.
[7] Ebd.
[8] Ebd. S. 32.
[9] Vgl. Ebd.
[10] Vgl. Tassis, Theofanis: Cornelius Castoriadis: Eine Disposition der Philosophie. S. 138.
[11] Vgl. Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 55.
[12] Ebd. S. 53. Vgl. auch: Castoriadis, Cornelius: Die Frage der Geschichte der Arbeiterbewegung.           S. 32ff. In: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, Nr. 15 (1998), S. 15-68.
[13] Vgl. ebd. S. 52.
[14] Marx, Karl; Engels, Friedrich: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten. S. 38. In: Marx-Engels-Werke Band 2. Berlin 1970, S. 3-223.
[15] Vgl. Castoriadis, Cornelius: Die Frage der Geschichte der Arbeiterbewegung. S. 50.
[16] Vgl. ebd. S. 57.
[17] Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 48.
[18] Ebd.
[19] Ebd. S. 47.
[20] Ebd. (Hervorhebung im Original).
[21] Ebd. S. 46. (Hervorhebung im Original).
[22] Ebd.
[23] Vgl. ebd. S. 50. Castoriadis betrachtet den homo oeconomicus nicht als ein Produkt der kapitalistischen Kultur, weil beide sich gegenseitig bedingen.
[24] Vgl. ebd. S. 51.                
[25] Ebd. S. 40. (Hervorhebung im Original).
[26] Vgl. ebd. S. 58.
[27] Vgl. ebd. S. 60ff.
[28] Vgl. ebd. S. 71.

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