Dienstag, 4. Januar 2011

TEIL 6

4.1.3. „Der tendenzielle Fall der Profitrate“
Marx berechnet die Profitrate aus dem Verhältnis von Mehrwert(m) zum Kapital, das sich aus konstantem und variablem Kapital (c+v) zusammensetzt. Der tendenzielle Fall der Profitrate bedeutet, dass der Mehrwert langfristig gesehen im Verhältnis zum Gesamtkapital sinken müsse. Für viele Marxisten gilt diese Theorie als das „Kernstück marxschen Krisentheorie“.[1] Nichtsdestotrotz gilt das von Marx im dritten Band des Kapitals dargestellte „Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate“ als einer der selbst unter Marxisten am meisten umstrittenen Teile der marxschen politischen Ökonomie.[2]
Marx begründet den tendenziellen Fall der Profitrate mit folgenden Argumenten: Da das variable Kapital(v) die einzige Quelle des Mehrwerts sei und sein Anteil langfristig gesehen im Verhältnis zum konstanten Kapital(c) sinke, also die „organische Zusammensetzung des Kapitals“ sich erhöhe, müssen Kapitalisten immer mehr investieren, um denselben Mehrwert(m) zu erzielen. Dies bedeute, dass dieselbe Mehrwertrate, bei unveränderter Ausbeutungsrate, sich „in einer fallenden Profitrate ausdrücken [würde], weil mit seinem materiellen Umfang, wenn auch nicht im selben Verhältnis, auch der Wertumfang des konstanten und damit des Gesamtkapitals wächst.“[3]  
Und auch wenn die Ausbeutungsrate sich erhöht, vollziehe sich diese Erhöhung langsamer als die der „organischen Zusammensetzung des Kapitals“, sodass letzteres vom ersteren nicht ausgeglichen werden könne.[4]
Auch wenn diese laut Marx der kapitalistischen Wirtschaftsweise immanente Tendenz zeitweise durch entgegenwirkende Kräfte[5] vermindert oder gar umgekehrt werden könne, setze sie sich langfristig durch:[6] „Dies kann nicht nur der Fall sein. Es muss der Fall sein – vorübergehende Schwankungen abgerechnet – auf der Basis der kapitalistischen Produktion.“[7]
Aus castoriadisscher Sicht ist das marxsche „Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate“ „logisch inkohärent“, „empirisch falsch“ und „ökonomisch und politisch irrelevant“.[8]
Castoriadis vertritt die Meinung, dass sich die Profitrate nicht aus dem Verhältnis von Mehrwert (m) zur Summe von konstantem (c) und variablem (v) Kapital ergibt. Vielmehr müsse sie sich aus dem Verhältnis des Profits zum Wert des Kapitals, das notwendig ist, „um die Produktion in Gang zu setzen (und nicht: im Laufe der Rechnungsperiode [benötigt wird]“[9], errechnet werden. Das würde bedeuten, dass nur die Teile der Werte der Rohstoffe und Löhne in diese Rechnung eingehen, die vorgestreckt werden müssen.
Obwohl Castoriadis das Wahrheitsgehalt der marxschen „Gesetze“ der Erhöhung der Ausbeutungsrate und der Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals anficht und die marxsche Argumentation des tendenziellen Falls der Profitrate der beiden anderen „Gesetze“ bedarf, untersucht Castoriadis den tendenziellen Fall der Profitrate unter der Bedingung der Richtigkeit der beiden anderen „Gesetze“ und kommt zu dem Schluss, dass man beweisen müsse, dass die Erhöhung der Ausbeutungsrate die Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals nicht ausgleichen oder übertreffen kann: ein Beweis, der weder in der marxschen Theorie, noch in der Empirie zu finden ist.[10] Castoriadis ist der Meinung, „dass es auf Dauer keine nennenswerte Abweichung zwischen der Wachstumsrate des Kapitals und der Wachstumsrate des Mehrwerts geben kann, denn es handelt sich nicht um unabhängige Größen: Das Kapital ist nichts anderes als akkumulierter Mehrwert. Wenn der Mehrwert (relativ gesehen) sehr klein würde, dann entsprechen auch das Wachstum des Kapitals.“[11]
Desweiteren behauptet Marx, dass genauere und richtigere Rechnungen[12] als die von Marx eigentlich einen schnellen Anstieg der Profitrate ergeben, der sich in großen Sprüngen vollziehen sollte. Das Ausbleiben eines solchen Anstiegs begründet er dadurch, „dass die Marx’schen ‚Gesetze‘ über die konstanten Reallöhne und die Erhöhung der Ausbeutungsrate nicht stimmen. Als Folge der Klassenkämpfe sind die Reallöhne über lange Zeiträume hinweg gestiegen, und das hat den Anstieg der Profitrate verhindert.“[13]
Aufgrund des Mangels an Daten, die den tendenziellen Fall der Profitrate statistisch belegen würden, fehle dem marxschen „Gesetz“ der empirische Beweis, was sicher nicht so wäre, wenn tatsächlich ein Fall der Profitrate langfristig stattfinden würde.[14]
Angenommen, das „Gesetz“ des tendenziellen Falls der Profitrate wäre richtig, schreibt Castoriadis, warum sollte es in einer sozialistischen Wirtschaft seine Gültigkeit verlieren, in der sich der technische Fortschritt – laut Marx – beschleunigen, und der Faktor, der im Kapitalismus dem Fall der Profitrate entgegenwirkt und ihn verlangsamt, nämlich der Anstieg der Ausbeutungsrate kein Äquivalent mehr haben würde? Würde eine sozialistische Ökonomie  nicht zum Stillstand kommen, wenn das technische Faktum der wachsenden Zahl von Maschinen und abnehmenden Zahl von Arbeitern die einzige „Begründung“ des „Gesetzes“ ist?[15]


[1] Henning, Christoph: Übersetzungsprobleme. Eine wissenschaftstheoretische Plausibilisierung des Marxschen Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate. S. 69. In: Marx-Engels Jahrbuch 2005. Berlin 2006, S. 63-85. Marx selbst schreibt zur Relevanz dieser Frage: „Sie [die bisherige Ökonomie] sah das Phänomen und quälte sich in widersprechenden Versuchen ab, es zu deuten. Bei der großen Wichtigkeit aber, die dies Gesetz für die kapitalistische Produktion hat, kann man sagen, dass es das Mysterium bildet, um dessen Lösung sich die ganze politische Ökonomie seit Adam Smith dreht, und dass der Unterschied zwischen den verschiednen Schulen seit A. Smith in den verschiednen Versuchen zu seiner Lösung besteht.“ (Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Band 3. Berlin 1983, S. 223.)
[2] Heinrich, Michael: Begründungsprobleme. Zur Debatte über das Marxsche „Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate“. S. 47. In: Marx-Engels Jahrbuch 2006. Berlin 2007, S. 47-80.
[3] Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. S. 221-222.
[4] Vgl. ebd. S. 227ff.
[5] Als „entgegenwirkende Ursachen“ benennt Marx die Erhöhung der Ausbeutungsrate, „Herunterdrücken des Arbeitslohns unter seinen Wert“, die „Verwohlfeilerung der Elemente des konstanten Kapitals“, „die relative Überbevölkerung“, den Außenhandel und „die Zunahme des Aktienkapitals“. Vgl. ebd. S. 242-250.
[6] Vgl. Heinrich, Michael: Begründungsprobleme. Zur Debatte über das Marxsche „Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate. S. S. 54.
[7] Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Band 3. S. 228. (Hervorhebung im Original).
[8] Castoriadis, Cornelius: Die revolutionäre Bewegung im modernen Kapitalismus. S. 149. (Hervorhebung im Original).
[9] Ebd. S. 151.
[10] Vgl. Tassis, Theofanis: Cornelius Castoriadis: Eine Disposition der Philosophie. S. 135.
[11] Castoriadis, Cornelius: Die revolutionäre Bewegung im modernen Kapitalismus. S. 150. (Hervorhebung im Original).
[12] Für die Rechnungen von Castoriadis, siehe: ebd. S. 149-154.
[13] Ebd. S. 155.
[14] Vgl. ebd. Über die in der marxistischen Literatur als Beweis angegebenen Statistiken schreibt Castoriadis, dass sie auf kurze Zeiträume bezogene Einzelbeispiele sind, die für eine Gesamtentwicklung der kapitalistischen Ökonomie irrelevant sind: „Auf die gleiche Art kann ich ‚beweisen‘, dass die Erde dabei ist, sich rapide abzukühlen und um 1973 herum von einer dicken Eisschicht bedeckt sein wird; ich brauche nur die Temperaturen jedes Jahr von Juli bis Januar zu messen und die Kurve zu extrapolieren.“ (ebd.)
[15] Vgl. ebd. S. 156.

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