Samstag, 29. Januar 2011

EINLEITUNG


1. Einleitung
Wenn man heute von Philosophie, Politik oder einfach von unserer Gesellschaft redet, kann der Marxismus als eine philosophische Strömung und eine politische Bewegung nicht ignoriert werden, denn er war mehr als nur eine weitere philosophische Schule, sein Einfluss beschränkte sich nicht auf akademische Kreise, erstreckte sich stets – wie Marx es ausdrücken würde – in das ‚wirkliche Leben‘ hinein und veränderte unsere Gesellschaft nachhaltig. Als die vorherrschende Ideologie der historischen Arbeiterbewegung, als Zündstoff für die 68er Revolte war die marxsche Theorie immer in die kapitalismuskritische Politik verflochten, und irgendwie ist sie das noch heute. Von der Linkspartei über parteikommunistische Sekten oder Wertkritiker bis hin zu (Post-)Operaisten stellt der Marxismus – in seiner einen oder anderen Interpretation – einen philosophischen und politischen Bezugspunkt für kapitalismuskritische bzw. antikapitalistische Politik dar.
Einst antwortete Michel Foucault auf die Frage, wie er sich zu Marx verhalte, indem er Marx‘ Rolle für das gesellschaftskritische Denken unserer Zeit mit dem verglich, was Newton und Einstein für die heutige Physik darstellen – mit seinen eigenen Worten:  „Verspürt denn ein Physiker das Bedürfnis, Newton oder Einstein ausdrücklich zu zitieren? Er verwendet sie einfach und braucht keine Anführungszeichen, keine Fußnote und keine Lobrede, die seine Treue gegenüber dem Denken des Meisters unter Beweis stellen.“[1]
Foucaults Worte zeigen die Wichtigkeit der marxschen Theorie für radikale Gesellschaftskritik. Tatsächlich ist die marxsche Theorie nicht nur in der politischen Auseinandersetzung mit dem bestehenden Gesellschaftssystem tief verwurzelt, sondern auch viele Intellektuelle, die das politische Denken der Zeit nach Marx präg(t)en, setzten und setzen sich mit ihr auseinander. In diesem Rahmen eine vollständige Liste dieser Denker zu erstellen ist unmöglich, aber Namen wie Hannah Arendt, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Karl Popper, Jean-Paul Sartre, Michel Foucault, Antonio Negri oder Pierre Bourdieu genügen meines Erachtens, die Relevanz zu demonstrieren, die der Marxismus für die politische Philosophie hat.
Die Medaille hat jedoch auch eine Kehrseite: Kündigte Marx die Aufhebung der Ausbeutung und der Unterdrückung und das Kommen eines neuen Zeitalters der menschlichen Emanzipation; mit seinen eigenen Worten: „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“,[2] an; scheiterten bisher alle politischen Bewegungen, die auf der Grundlage der marxschen Theorie versuchten, das Projekt der menschlichen Emanzipation zu verwirklichen: Während im ‚Osten‘, d.h. in den so genannten realsozialistischen Ländern, der Marxismus zu einer staatstragenden Ideologie, einer Legitimation autoritärer Regimes wurde, entschärfte er sich im ‚Westen‘ durch die Entstehung der Sozialdemokratie  und die Integration der historischen Arbeiterbewegung durch das Verkommen der Gewerkschaften zu bürokratischen, staatstragenden Apparaten größtenteils.
Marx zielte freilich nicht auf die Errichtung von autoritären Regimes, geschweige denn von Gulags, ab; aber diese waren Teil der bedeutendsten Früchte der marxistischen Bewegung in ihrer Historizität. Angesichts dieser Tatsache vertrete ich die Meinung, dass das nach wie vor durchaus wichtige Werk von Marx heute nur noch durch eine kritische und radikale Auseinandersetzung mit diesem zu würdigen ist. Von dieser Position ausgehend werde ich mich in dieser Arbeit mit der castoriadisschen Marxkritik und seinem Autonomieentwurf beschäftigen, der nach neuen Wegen sucht, die menschliche Emanzipation zu verwirklichen.
Auch Castoriadis verglich Marx mit Newton, aber um andere Schlüsse zu ziehen als Foucault: „Ein Physiker, der sich heute die Aufgabe stellen würde, die newtonsche Physik gegen alles und jeden zu verteidigen, würde sich zur völligen Sterilität verdammen – und würde zweifellos jedesmal in Wutausbrüche geraten, wenn man solche Ungeheuerlichkeiten wie Antimaterie erwähnte, oder Teilchen, die gleichzeitig Wellen sind, die Expansion des Weltalles oder den Zusammenbruch von Kausalität, Identität und Bestimmung des Ortes als absolute Kategorien. Die bedauernswerte Situation des Revolutionärs, der heute nur noch den ‚Marxismus‘ (oder ein paar von ihm ausgeliehene Ideen) ‚verteidigen‘ möchte, ist genauso hoffnungslos.“[3]
Cornelius Castoriadis, als Schöpfer eines eigenständigen, keiner Richtung zuzuordnenden theoretischen Werkes und „letzter Universalgelehrter“[4] (Philosoph, Mitbegründer der Zeitschrift Socialisme ou Barbarie, politischer Denker, Soziologe, Ökonom, praktizierender Psychoanalytiker, Erneuerer der freudschen Theorie, Sowjetologe, Demokratietheoretiker und radikaler politischer Aktivist), ist einer der interessantesten Denker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Trotzdem blieb er in Deutschland – abgesehen von wenigen Ausnahmen – unbeachtet oder wurde als eine ‚französische Anomalie‘ wahrgenommen. In den letzten Jahren scheint Castoriadis jedoch in akademischen Kreisen ein zunehmendes Interesse zu erwecken. Schriften von Andrea Gabler und Harald Wolf und der von diesen mitbegründete Verein für das Studium und die Förderung von Autonomie könnten hierfür aktuelle Beispiele liefern.
Castoriadis‘ Werk begann als eine Selbstkritik des Marxismus, die Axel Honneth in dieselbe Theorietradition wie Karl Korsch, Maurice Merleau-Ponty und Edward Palmer Thompson einordnet.[5] Da es nicht primär philosophisch-theoretische Überlegungen waren, die Castoriadis an der marxschen Theorie zweifeln ließen, sondern Erfahrungen der politischen Praxis;[6] beginnt die Arbeit mit Castoriadis‘ Jugend in Griechenland. Schon zu dieser Zeit kommen die zwei Sachen, linksradikale Politik und Philosophie, zum Vorschein, die ihn ein ganzes Leben lang beschäftigen werden: Seine kurze Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei, die er später als „eine totalitäre Mikrogesellschaft“[7] bezeichnen sollte; seine Kritik am Stalinismus aus einer emanzipatorischen linken Perspektive und die erste Bekanntschaft mit der Philosophie, vor allem mit Marx, Kant, Max Weber und den großen Philosophen der griechischen Antike, Platon und Aristoteles; waren Erfahrungen, die in Castoriadis‘ Denken nachhaltige Spuren hinterließen.
Im zweiten Kapitel der Arbeit werde ich Castoriadis von seiner Ankunft in Frankreich in 1945 bis hin zur Auflösung von Socialisme ou Barbarie in 1967 begleiten. In diesen Jahren beschritt Castoriadis die ersten, aber entscheidenden Schritte eines Weges, der ihn von der Selbstkritik des Marxismus hin zu einer Selbstüberschreitung des Marxismus führen sollte.
Socialisme ou Barbarie war eine linkslibertäre Gruppe, die sich von der trotzkistischen IV. Internationale abspaltete und der Erneuerung der marxistischen Theorie und Neuorientierung der revolutionären Bewegung widmete. Castoriadis und Claude Lefort, ein Schüler des Philosophen Merleau-Ponty,[8] entwarfen im Rahmen ihres marxistischen Erneuerungsprojektes die Theorie des „bürokratischen Kapitalismus“, die sich an Theorien von Karl Marx und Max Weber anlehnte und die Bürokratisierung als eine dem Kapitalismus innewohnende Idealtendenz zu entlarven behauptete. Castoriadis gab dadurch dem von Marx ökonomisch definierten ‚Grundwiderspruch des Kapitalismus‘ eine machtpolitische Gestalt, indem er der kapitalistischen Gesellschaft sowohl im ‚Westen‘ als auch im ‚Osten‘ die Teilung in ‚Leitende‘ und ‚Ausführende‘ attestierte und einen unlösbaren Widerspruch zwischen dem Ausschluss der Arbeiter aus allerlei Entscheidungen in der Produktionssphäre und der Angewiesenheit des (bürokratischen) Kapitalismus auf ihre Entscheidungen als ein Korrektiv für (unrealisierbare) bürokratische Pläne entdeckte.
Der castoriadissche Versuch, die praktisch-politischen Intentionen des Marxismus zu retten, führte zur Preisgabe seiner zentralen Grundannahmen: Als sich die Grundzüge seiner Gesellschaftstheorie, die auf einen radikaldemokratischen Sozialismus abzielt, bruchstückhaft abzuzeichnen begannen, hatte Castoriadis u.a. den historischen Materialismus, das Primat der Ökonomie und das marxsche revolutionäre Subjekt, das Industrieproletariat, bereits über Bord geworfen.
Im darauf folgenden Kapitel werde ich auf die castoriadissche Marxkritik eingehen, deren Konturen sich schon im dritten Kapitel der Arbeit abgezeichnet haben werden. Zunächst beschäftige ich mich mit der Kritik an der marxschen Ökonomietheorie, die von der Kritik an einzelnen, aber für die marxsche Ökonomie- sowie Geschichtstheorie grundlegenden Teilen bis hin zu der allgemeinen Verfangenheit der marxschen Theorie in kapitalistischen Kategorien reicht.
Anschließend werde ich mich mit Castoriadis‘ Kritik an der marxschen Theorie und Philosophie der Geschichte auseinandersetzen. Castoriadis stellt die Stellung der Ökonomie als einer autonomen Sphäre in Frage und wirft Marx vor, die Funktionsweise und Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft sowie den homo oeconomicus, dessen Genese aus castoriadisscher Sicht mit der Entstehung der kapitalistischen Gesellschaft zusammen eine Zwillingsgeburt darstellt, auf die gesamte Menschheitsgeschichte zu projizieren. Des Weiteren ist Castoriadis der Meinung, dass die marxsche Geschichtsphilosophie ein rationalistischer Objektivismus ist, bei dem der wesentliche Inhalt der hegelschen Geschichtsphilosophie erhalten bleibt. Das die marxsche Theorie dominierende szientistische Moment stellt in Castoriadis‘ Augen einen der Faktoren dar, die zur Entstehung repressiver Systeme im Namen des Marxismus beigetrugen, und zieht aus seiner Auseinandersetzung mit der marxschen Theorie den Schluss, dass nicht nur der Marxismus, sondern der Theorietypus, zu dem Marxismus gehört, versagt habe.
Im Kapitel „Autonomieentwurf“ beschäftige ich mich zunächst mit der castoriadisschen Ontologie, die im Gegensatz zur vorherrschenden abendländischen Philosophietradition steht, die laut Castoriadis schon seit Platon das Sein als Bestimmt-Sein auffasst.  Castoriadis zufolge entsteht in der Geschichte ‚Neues‘, was auf die Fähigkeit des Menschen und folglich der menschlichen Gesellschaft zurückzuführen ist, „ein Ding oder eine Beziehung zu vergegenwärtigen, die nicht gegenwärtig sind (die in der Wahrnehmung nicht gegeben sind oder es niemals waren).“[9] Aber nicht nur die Menschheitsgeschichte, sondern auch die Natur und darüber hinaus das Sein an sich ist Castoriadis zufolge nicht vollkommen rational. Auf seinen ontologischen Überlegungen beruht für Castoriadis die Möglichkeit des freien menschlichen Handelns sowie einer autonomen Gesellschaft. 
Im folgenden Teil werde ich auf die castoriadissche Neuformulierung der Praxis, der Theorie und deren Verhältnis zueinander eingehen, um im Anschluss die Konturen der autonomen Gesellschaft nach Castoriadis zu zeichnen.
Castoriadis reichert den aristotelischen Praxisbegriff normativ an, so dass er in sein Zentrum die Autonomie des Subjekts und die des Anderen stellt, während die revolutionäre Theorie bei ihm der Nicht-Bestimmtheit des Seienden entsprechend einen Entwurfcharakter erhält, so dass die Theorie – stets der Praxis untergeordnet – kein abgeschlossenes Wissen, sondern eine antizipierte Erkenntnis darstellt, die den praktischen Erfahrungen entsprechend korrigiert, erweitert oder auch verworfen werden kann. Der castoriadissche Praxisbegriff bildet auch den Kern seines Autonomieentwurfs: Die Praxis als autonomieerzeugendes Tun markiert einerseits die Meilensteine des Weges, der aus der heutigen heteronomen Gesellschaft in Richtung autonome Gesellschaft führen, andererseits ist es das menschliche Tun, auf dem die autonome Gesellschaft beruht. Castoriadis stellt grundsätzliche Überlegungen, die die autonome Gesellschaft betreffen, gibt aber der autonomen Gesellschaft keine konkrete Gestalt, da es einerseits keine perfekte Gesellschaft geben kann und andererseits die Demokratie kein Zustand, sondern eine dauerhafte Bewegung ist, die sich selbst erzeugt.  
Im letzten Kapitel, dem Schlusswort, werde ich auf ein allumfassendes Fazit verzichten und statt dessen anhand der Erkenntnisse, die in den vorgehenden Kapiteln gewonnen wurden, darstellen, welche Momente für eine emanzipatorische und gesellschaftskritische Philosophie und Politik durch Castoriadis‘ Werk freigesetzt wurden.
Castoriadis ist ein Philosoph, der mit seiner Arbeit auf einem sehr breiten Feld sehr tief gegraben hat, mit Agnes Hellers Worten „eine sehr wissbegierige Person“, die „einen philosophischen Instinkt [hat], alles wert zu finden, durchdacht zu werden“. Er ist nicht nur „an den Menschen und an der Polis interessiert“, sondern auch „an Bäumen und Steinen“, denn er „versteht Philosophie und Demokratie als Einheit, was es ihm ermöglicht, auch Spekulationen über Bäume und Steine als wichtige Manifestationen und Teilbereiche der politischen Philosophie zu verstehen.“[10] Aus diesem Grund ist nicht möglich, im Rahmen dieser Arbeit das castoriadissche Werk in seiner vollen Tiefe und Breite zu behandeln; so muss ich u.a. das psychoanalytische Werk von Castoriadis, das mit seinem Autonomieentwurf zutiefst verflochten ist, leider aus der Arbeit ausklammern; um mich auf das ausdrücklich Politische zu konzentrieren


[1] Foucault, Michel: Power and Knowledge: Selected Interviews and Other Writings 1972-1977. Brighton 1980, S. 52. (eigene Übersetzung).
[2] Marx, Karl: Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten. In: Marx-Engels-Werke Band 3. Berlin 1969, S. 35.
[3] Castoriadis, Cornelius: Postskript zur Neudefinition der Revolution. . Hamburg 1974, S. 11.
[4] Gabler, Andrea: Arbeitsanalyse und Selbstbestimmung. Zur Bedeutung und Aktualität von „Socialisme ou Barbarie“. Unveröffentlichte Dissertation. Göttingen 2006, S. 6.
[5] Vgl. Honneth, Axel: Eine ontologische Rettung der Revolution. Zur Gesellschaftstheorie von Cornelius Castoriadis. S. 145. In: ders.: Die zerrissene Welt des Sozialen. Sozialphilosophische Aufsätze. Frankfurt a.M. 1999, S. 144-164
[6] Vgl. Castoriadis, Cornelius: Warum ich kein Marxist mehr bin. S. 19. In: ders.: Vom Sozialismus zur autonomen Gesellschaft. Über den Inhalt des Sozialismus. Ausgewählte Schriften Band 2.1. Lich (Hessen) 2007, S. 19-64
[7] Castoriadis, Cornelius: Der Anstieg der Bedeutungslosigkeit. S. 17. In: ders.: Autonomie oder Barbarei. Ausgewählte Schriften Band 1. Lich(Hessen) 2006, S. 17-41.
[8] Vgl. Wolf, Harald: „Die Revolution neu beginnen.“ Über Cornelius Castoriadis und „Socialisme ou Barbarie”. S. 78. In: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, Nr. 15 (1998), S. 69-112.

[9] Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt 1997, S. 218.
[10] Alle Zitate im Absatz sind aus: Heller, Agnes: Von Castoriadis zu Aristoteles, von Aristoteles zu Kant, von Kant zu uns. S. 176. In: Pechriggl, Alice; Waldenfels, Bernhard (Hrsg.): Die Institution des Imaginären. Zur Philosophie von Cornelius Castoriadis. Wien, Berlin 1991, S. 173-188.

2 Kommentare:

  1. ist das die Einleitung deiner DA?

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  2. ja, das ist die einleitung meiner diplomarbeit... aber das hier ist nicht die endfassung... ich hab die da nochmals korrigiert, umgeschrieben etc. wenn du sie lesen magst, kann ich sie dir als pdf zuschicken...

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