Montag, 24. Januar 2011

TEIL 12


5. Der Autonomieentwurf
In diesem Kapitel schildere und diskutiere ich den castoriadisschen Autonomieentwurf, der sich einerseits aus einer Praxisphilosophie, die das dem Marxismus innewohnende revolutionäre Moment ablösen soll, das im marxschen Rahmen vom szientistischen Moment unterdrückt wird, und andererseits aus einer neuen Ontologie zusammensetzt, die nicht nur das szientistische Moment der marxschen Philosophie, sondern das traditionelle abendländische Konzept des Seins als Determiniert-Sein negiert und das Sein als Nicht-Determiniert-Sein neu definiert, um das Neue begreiflich zu machen und die Praxis von der Unterdrückung des Seins als Determiniert-Sein zu befreien.
Zunächst werde ich auf die castoriadisschen Praxis- und Autonomiebegriffe eingehen, um anhand derer den castoriadisschen Autonomieentwurf darzustellen, mit dem sich Castoriadis in die Autonomiebewegung einreiht, die vor fünfundzwanzig Jahrhunderten in Griechenland durch die Entstehung der Autonomie als eine imaginäre Bedeutung begann und in den letzten zweihundert Jahren besonders dicht und reich gewesen ist.
Anschließend werde ich auf die castoriadissche Ontologie eingehen, die das Sein als Nicht-Determiniert-Sein denkt. In diesem Teil werde ich mich einerseits Castoriadis‘ Kritik an der Identitäts- und Mengenlogik des abendländischen Denkens, andererseits mit seiner Geschichtsphilosophie, die die Nicht-Determiniertheit des Gesellschaftlichen und des Geschichtlichen konstatiert und der Schöpfung und dem Imaginären darin eine wesentliche Rolle einräumt.

5.1. Praxis, Theorie und revolutionäre Politik
Wenn man die Möglichkeit einer vollständigen und systematischen Theorie der Geschichte verneint, wie ist dann eine revolutionäre Theorie noch möglich, die „die Veränderung der Gesellschaft durch die autonome Tätigkeit der Menschen [erstrebt] und […] auf die Einrichtung einer Gesellschaft [zielt], die in ihrer Organisation der Autonomie aller entgegenkommt“?[1]
Dieser Frage antwortet Castoriadis, indem er das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis untersucht und beide neu definiert, indem er die Autonomie als ein der Praxis und der revolutionären Theorie immanentes Moment einführt. Dabei bedient er sich des aristotelischen Praxisbegriffs.[2]
Die techné ist bei Aristoteles eine schöpferische, mit Vernunft gebundene und dauerhaft erworbene Fähigkeit, die sich – genauso wie Praxis – auf Dinge richtet, die in sich selbst die Möglichkeit enthalten, anders verfasst zu sein. Der Unterschied zwischen Praxis und Technik besteht bei Aristoteles darin, dass technische Tätigkeiten sich an einem vorgegebenen, ihnen äußerlichen Ziel orientieren, während Praxis jene besondere Form der Tätigkeit darstellt, die ihren Zweck in sich trägt. Das heißt, das Ziel der Technik ist ein Werk, das außerhalb der Tätigkeit selbst besteht, die es hat werden lassen, verwirklicht sich die Praxis ihrem eigenen Vollzug.[3]
Die geschichtliche Welt ist für Castoriadis die Welt des menschlichen Tuns, wobei dieses Tun immer in Beziehung zum Wissen steht. Die zwei Pole dieser Beziehung sind das Reflexhandeln und die Technik. Rein reflexhaft sind nur die menschlichen Taten, die vollkommen unbewusst vollzogen werden und per definitionem in keiner Beziehung zum Wissen stehen. Aus diesem Grund gehören Reflexe nicht zum Bereich der Geschichte. Das Gegenteil des vollkommen unbewussten Handelns sind die „rein rationalen“ Tätigkeiten, die sich auf ein praktisch erschöpfendes Wissen über das betreffende Gebiet stützen können: Die Technik. „Hier ist das Handeln vom Wissen abhängig, ist gewissermaßen die Schlussfolgerung, die sich aus den Argumenten ableiten lässt, und beschränkt sich darauf, in der Realität für die angestrebten Ziele Mittel zu finden beziehungsweise für das Eintreffen der gewünschten Resultate Ursachen zu schaffen“[4]
Das Wesentliche des menschlichen Tuns ist nach Castoriadis weder Reflexhandeln noch Technik. Auch wenn es kein menschliches Tun ohne Bewusstsein gäbe, müssen Menschen meistens ohne (praktisch) erschöpfendes Wissen über ihr eigenes Tun und seinen Gegenstand handeln. Dies gilt neben alltäglichen Tätigkeiten auch für die Theorie, die als solche […] ein Tun, der stets ungewisse Versuch, das Projekt einer Aufklärung der Welt zu verwirklichen[, ist]“, und die Philosophie „als höchste oder äußerste Form von Theorie“[5], denn sie ist nur ein Entwurf, dessen Ursprung, Tragweite und Schicksal ungewiss sind, da sie niemals „die Verwirklichung einer vollkommenen Durchsichtigkeit der Welt für das Subjekt und des Subjekts für sich selbst“[6] sein kann.
Während Castoriadis den Technikbegriff im aristotelischen Sinne benutzt, sprengen die Eigenschaften, die er der Praxis zuschreibt, das aristotelische Bezugssystem:[7] Die Praxis ist, so Castoriadis, „dasjenige Handeln, worin die anderen als autonome Wesen angesehen und als wesentlicher Faktor bei der Entfaltung ihrer eigenen Autonomie betrachtet werden.“[8]
Die Praxis kann – im Gegensatz zur Technik – nicht in einem Zweck-Mittel-Schema gedacht werden: Die Autonomie ist nicht einfache der Zweck der Praxis, sie steht nicht nur am Ende der Praxis, sondern wohnt ihr von Anfang bis zum Ende inne. Was angestrebt wird, steht in einer inneren Beziehung zu dem womit es angestrebt wird: „Praxis ist, was die Entwicklung der Autonomie bezweckt und dazu die Autonomie benützt.“[9]
Die Praxis ist zwar eine bewusste Tätigkeit, bedarf also des Wissens; aber ihr Verhältnis zum Wissen ist nicht gleichzusetzen mit der Anwendung eines vorgängigen Wissens. Sie stützt sich stets auf ein bruchstückhaftes und vorläufiges Wissen. „Bruchstückhaft, weil es keine erschöpfende Theorie des Menschen und der Geschichte geben kann; vorläufig, weil die Praxis selbst ständig neues Wissen auftauchen lässt.“[10]
Aus diesem Grund ist der Theorietypus, der der Praxis entspricht, als einen Entwurf zu denken, der – im Gegensatz zu einer in sich abgeschlossenen Theorie – nach Maßgabe der praktischen Erfahrungen ständig korrigiert und erweitert werden kann (und soll). Das Verhältnis zwischen Wissen und Tun zeichnet sich in diesem Zusammenhang als die kontinuierliche Korrektur und Erweiterung einer vorgriffshaften Erkenntnis im experimentierenden Vollzug des Handelns ab.[11]
Das Primat der Veränderung darf nicht mit den experimentellen bzw. beobachtenden Wissenschaften verwechselt werden, bei denen die Tätigkeit der Aufklärung nur zeitlich vorausgeht, aber man der Aufklärung willen zum Experiment schreitet, denn „Aufklärung und Veränderung des Wirklichen schreiten in der Praxis in einem Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit voran, denn die Praxis findet ihre letzte Bewährung nicht in der Aufklärung, sondern in der Veränderung des Bestehenden.“[12]
Der Gegenstand der Praxis ist in zweierlei Hinsicht das Neue: Das durch die Praxis die Wirklichkeit verändernde Subjekt selbst unterliegt ständig Veränderungen durch die Erfahrung, „in die es eingebunden ist und die es macht, so wie es von ihr gemacht wird.“[13] Daraus ergibt sich eine ständige Veränderung des Verhältnisses zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Praxis, die nicht ein für allemal definiert werden können, weil sie sich ebenfalls in einer dauernden Veränderung befinden.
Der normativ angereicherte castoriadissche Praxisbegriff erhält seinen vollen Bedeutungsgehalt dadurch, dass Castoriadis das in seiner Marxkritik vorgriffshaft entwickelte Konzept revolutionärer Politik in diesen einführt. Die revolutionäre Politik, die sich in Anlehnung auf den castoriadisschen Schöpfungsbegriff die kreative Hervorbringung neuer Bedeutungswelten zur Aufgabe macht, erhält durch ihre Definition als Praxis die Bedeutung, die Tätigkeit zu sein, „die sich mit der Organisation und Orientierung der Gesellschaft auf die Autonomie aller hin befasst und die anerkennt, dass diese Autonomie einen radikalen Wandel der Gesellschaft voraussetzt, der seinerseits nur vermöge der autonomen Tätigkeit der Menschen zur Entfaltung kommen kann.“[14]
Die revolutionäre Praxis ist – wie jede andere Praxis auch – nicht in einem Zweck-Mittel-Schema angelegt, die Autonomie ist ihr Zweck und Mittel zugleich, d.h. die revolutionäre Politik entwirft auf die kollektive Vorstellungskraft gestützt eine neue (Bedeutungs-)Welt, die durch die Verallgemeinerung der revolutionären Praxis, die in revolutionären Momenten auftritt, zur Bewegungsform der gesellschaftlichen Wirklichkeit als solcher auf die Erweiterung der Autonomie zielen, und versucht durch autonomes Handeln der Menschen revolutionär in die Wirklichkeit umzusetzen.

5.2. Die Wurzeln des revolutionären Entwurfs
Der revolutionäre Entwurf, so Castoriadis, orientiert sich einerseits an Wünschen nach einer sozialistischen Gesellschaft,[15] aber lehnt sich andererseits an die Krise der bestehenden Gesellschaft. Dass die Geschichte und die Gesellschaft nicht restlos rational sind, bedeutet für Castoriadis nicht, dass sie vollkommen irrational sind: In der geschichtlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit überkreuzen sich ständig Rationales und Nicht-Rationales, was eine Analyse der bestehenden Gesellschaft im Hinblick auf ihre Bruchlinien und Krise ermöglicht.[16]
Bei der Untersuchung der kapitalistischen Gesellschaft geht es Castoriadis nicht darum, ob dieses oder jenes Ergebnis geschichtlich unvermeidbar ist, sondern ob in der heutigen Gesellschaft Anhaltspunkte für eine sozialistische Revolution zu finden sind, kurz gesagt: ob das Potential vorhanden ist, das einen radikalen Wandel der Gesellschaft in Richtung Autonomie ermöglicht.
Aus castoriadisscher Sicht bildet das Arbeitsverhältnis den Kern der kapitalistischen Gesellschaft,[17] und in dieser Sphäre existiert ein zentraler und dominierender Konflikt, der darin besteht, dass einerseits die Arbeiter durch die Teilung der Gesellschaft in „dirigeants“ und „executants“ aus den Entscheidungsprozessen möglichst weitgehend ausgeschlossen werden, und andererseits das Funktionieren der Arbeitssphäre auf die Mitwirkung der Arbeiter angewiesen ist.[18] Dieser Konflikt bedeutet aber nicht nur eine Dysfunktionalität der kapitalistischen Organisation der Arbeit, sondern trägt zugleich den Keim einer neuen Organisierung in sich: „Die Arbeiter bilden informelle Gruppen und setzen der offiziellen Organisation der Arbeit, wie sie von seiten der Unternehmensführung vorgegeben wurde, eine fragmentarische ‚Gegenorganisation‘ (contre-gestion) entgegen; [sie] entwickeln Forderungen zum Thema Arbeitsbedingungen und Arbeitsorganisation; [und sie erheben] in bestimmten Zeiten der sozialen Krise […] offen und unmittelbar den Anspruch, die Organisation der Arbeit selbst in die Hand zu nehmen, und versuchen diese Forderung in die Tat umzusetzen (Russland 1917/18, Katalonien 1936/1937, Ungarn 1956).“[19] Die Arbeiterkontrolle, d.h. die Kontrolle der Arbeit durch alle an ihr beteiligten und die Abschaffung jeglicher Bürokratie, ist nach Castoriadis die Lösung dieses dem Kapitalismus innewohnenden Konflikts, die sich durch den Widerstand der Arbeiter als eine Tendenz abzeichnet. In dem Maße, wie die gesellschaftliche Wirklichkeit eine konfligierende Struktur und zugleich den Keim zur Lösung beinhaltet, vermag „eine Beschreibung und kritische Analyse des Bestehenden die Wurzel des revolutionären Entwurfs freizulegen.“[20]
Castoriadis verortet in der Distributionssphäre ein weiteres folgenreiches Problem, dessen Lösung im kapitalistischen Wirtschaftssystem zwar nicht ausgeschlossen, aber dennoch unwahrscheinlich ist: Während die Arbeitsproduktivität in den industrialisierten Ländern in einem immer schneller werdenden Rhythmus wächst, erweist sich der Absatz der Arbeitsprodukte trotz ständiger Erhöhung des Lebensstandards als problematisch, da die meisten traditionellen Bedürfnisse der kaufkräftigen Bevölkerung gesättigt werden. Der Kapitalismus antwortet auf dieses Problem „mit der künstlichen Erzeugung neuer Bedürfnisse, der Manipulation der Verbraucher, der Entwicklung einer ‚Statusmentalität‘, wonach der soziale Rang vom Konsumniveau abhängig ist, sowie Schaffung überholter beziehungsweise parasitärer Beschäftigungen.“[21] Castoriadis bezweifelt, ob diese Bewältigungsmethoden auf Dauer genügen und sieht zwei mögliche Auswege: die Umstellung des Produktionsapparates auf die Befriedigung kollektiver Bedürfnisse oder aber die Verkürzung der Arbeitszeit. Da beide Lösungen sind nur im Sinne des Kapitalismus als eines Gesamtsystems rational sind, aber nicht aus der Interessenperspektive der einflussreichsten bürokratischen und kapitalistischen Gruppen, hält Castoriadis die Umsetzung dieser Maßnahmen zur Lösung des Distributionsfrage für unwahrscheinlich.
Außerdem vertritt Castoriadis die Meinung, dass bei der Nutzung der produktiven Ressourcen eine ungeheure Verschwendung stattfindet, für die er die Nicht-Beteiligung der Arbeiter an den Entscheidungen, die die Produktion betreffen, die bürokratische Dysfunktionalität sowohl auf der Ebene des Einzelunternehmens als auch auf gesamtwirtschaftlichem Niveau, Konkurrenz, irrationale Verteilung der Produktionskapazität auf die einzelnen Unternehmen und Branchen, die Notwendigkeit der Bürokratie zur Überwachung innerhalb und außerhalb des Unternehmens, Armee, Polizei usw. verantwortlich macht.[22]
Schließlich stellt Castoriadis fest, dass in der modernen kapitalistischen Gesellschaft „ein ökonomisches Problem von ungeheueren Ausmaßen [besteht], das letztlich das Problem der ‚Aufhebung der Ökonomie‘ ist und mit der Möglichkeit einer Krise schwanger geht.“[23] Die Aufhebung der oben genannten Probleme durch einen radikalen Wandel der Gesellschaft würde nach Castoriadis eine nie da gewesene Rationalisierung der Wirtschaft bedeuten. Trotz der prinzipiellen Unmöglichkeit einer vollständigen Rationalisierung könnte dieser Prozess so weit gehen, dass ein qualitativer Wandel stattfände, der die Menschen in den Stand setzt, „die Wirtschaft bewusst zu lenken und mit Bewusstsein zu entscheiden – statt wie zur Zeit der Ökonomie unterworfen zu sein.“[24] Da niemand sagen kann, in wessen Dienst die Ökonomie steht, solange ihr Funktionieren undurchschaubar ist, geht die Forderung nach einer verständlichen Ökonomie der Forderung nach einer Ökonomie im Dienste aller logisch und politisch voraus; und daher gehört die Rationalisierung der Ökonomie zu den Voraussetzungen von Autonomie.[25]
Die Krise der kapitalistischen Gesellschaft besteht aber nicht ausschließlich in der Ökonomie, sondern sie umfasst als Gegensatz zwischen dem zwanghaften Ausschluss aus den Entscheidungen und der Forderung nach Teilhabe die ganze Gesellschaft mit all ihren Sphären. Castoriadis sieht die Arbeiterkontrolle als einen Lösungsansatz, der über die Arbeitssphäre hinausweist: „Eine Vergesellschaftungsform […], in welcher eine Teilhabe an allen Entscheidungen möglich wäre“[26], eine, „die in ihrer Organisation der Autonomie aller entgegenkommt“[27], wäre durch die Verallgemeinerung desselben Prinzips auf alle sozialen Bereiche möglich.
Die Krise der kapitalistischen Gesellschaft drückt sich Castoriadis zufolge vor allem in dem Widerstand und der Ablehnung der Menschen aus bzw. die Probleme und Konflikte, die dem Kapitalismus innewohnen, entwickeln sich erst durch den Widerstand und die Ablehnung der Menschen zu einer Krise:[28] „In der Krise und in dem Protest, den die heutigen Menschen gegen die gesellschaftlichen Lebensformen erheben, gibt es bedeutungsschwere Tatsachen – Autoritätsverschleiß, allmähliche Erschöpfung der ökonomischen Anreize, Machtverlust des instituierten Imaginären, Verweigerung der Annahme bloß ererbter oder überlieferter Regeln –, die sich nur einer dieser beiden zentralen Bedeutungen zuschlagen lassen: Entweder zeichnet sich darin eine Art fortschreitender Zersetzung des epochalen Lebensinhalts und das allmähliche Erscheinen einer Gesellschaft ab, die die Äußerlichkeit der Menschen untereinander und die Fremdheit jedes Einzelnen zu sich selbst ins Extrem treibt – eine übervölkerte Wüste, einsame Masse, ein klimatisierter Alptraum, mehr noch: eine allgemeine Anästhesie. Oder aber die in der Arbeit der Menschen hervortretende Tendenz zur Kooperation hilft uns, die kollektive Selbstverwaltung und Selbstverantwortung für alles Handeln zu verwirklichen.“[29]
Castoriadis begreift die revolutionäre Politik als eine Praxis, die sich an die Krise der bestehenden Gesellschaft anlehnt und sich für die Autonomie einsetzt. Im Gegensatz zu einer spekulativen Philosophie, die die Beherrschung der Totalität voraussetzt, schlägt Castoriadis die revolutionäre Praxis vor, die die gesellschaftliche Totalität zwar berücksichtigt, ohne den Anspruch zu erheben, sie vollständig zu beherrschen. Der Gegenstand der revolutionären Praxis – wie jeder anderen auch – lässt sich nicht vollständig rational bestimmen: Die revolutionäre Praxis hat „beständig mit der Totalität zu tun […] Denn der ‚Gegenstand‘ dieser Praxis ist stets als Totalität gegeben – und entzieht sich als solche.“[30] In der radikalen Unbestimmtheit des Gesellschaftlichen sieht Castoriadis kein Problem, denn die Tatsache, dass es unerschöpflich bzw. unvorhersehbar ist, ist kein Grund, die revolutionäre Praxis aufzugeben, sondern gerade die Voraussetzung dafür: „Die revolutionäre Praxis braucht also kein umfassendes und detailliertes Schema der zu errichtenden Gesellschaft auszumalen, sowenig sie ‚beweisen‘ oder bedingungslos garantieren müsste, dass diese Gesellschaft alle Probleme, die sich ihr jemals stellen, zu lösen vermag. Sie beschränkt sich vielmehr darauf zu zeigen, dass ihre Vorschläge keine Widersprüche enthalten und dass deren Verwirklichung – so weit man es überblicken kann – die Problemlösungskapazität der Gesellschaft ungeheuer anwachsen lassen würde.“[31]



[1] Ebd. S. 162.
[2] Hannah Arendt bediente sich der aristotelischen Begriffe Praxis und Poiesis schon vor Castoriadis. während Praxis für sie ein wichtiges Moment des aktiven Lebens darstellt, trägt Poiesis die Gefahr der Entfremdung in sich. Vgl. Arendt, Hannah: Vita activa oder vom tätigen Leben. München 2010.
[3] Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Hamburg 2006.
[4] Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 123.
[5] Ebd. S. 127.
[6] Ebd.
[7] Vgl. Honneth, Axel: Eine ontologische Rettung der Revolution. Zur Gesellschaftstheorie von Cornelius Castoriadis. S. 150.
[8] Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 128. Auch wenn Castoriadis die Autonomie des oder der anderen als ein der Praxis immanentes Moment definiert, liefert er keine Erklärung für diese Immanenz. Daher kann man sagen, dass die Praxis bei Castoriadis per definitionem auf etwas ihr äußerliches bezogen ist, was mit dem aristotelischen Praxisbegriff nicht im Einklang steht. Gerade die Erklärung von Castoriadis dafür, warum persönliche Beziehungen wie Liebe oder Freundschaft keine Praxen sind, nämlich dass sie keinen ihnen äußerlichen Zweck haben, verdeutlicht diesen Unterschied klar. (Vgl. ebd.)
[9] Ebd.
[10] Ebd. S. 130.
[11] Vgl. Honneth, Axel: Eine ontologische Rettung der Revolution. Zur Gesellschaftstheorie von Cornelius Castoriadis. S. 150.
[12] Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 130.
[13] Ebd. S. 131.
[14] Ebd. S. 134.
[15] Castoriadis benutzt in Gesellschaft als imaginäre Institution „Sozialismus“ und „autonome Gesellschaft“ synonym. Später begann er wegen der negativen Konnotation des Begriffs „Sozialismus“ nur noch den Begriff „autonome Gesellschaft“ zu verwenden. Da das Aufgeben des Begriffs nicht mit einem inhaltlichen Wandel bezüglich der sozialistischen bzw. autonomen Gesellschaft verbunden war und mir die Beibehaltung des Begriffs „Sozialismus“ hilfreich erscheint, Castoriadis in der sozialistischen Tradition zu verorten, sehe ich keinen Grund, „Sozialismus“ durchgehend durch „autonome Gesellschaft zu ersetzen. Für eine ausführliche Darstellung der Gründe, die Castoriadis dafür angibt, warum er den Begriff „Sozialismus“ nicht mehr passend für die autonome Gesellschaft hält, siehe Fußnote XXXXXX.
[16] Vgl. Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 135ff.
[17] Castoriadis sah ursprünglich die industrielle Produktionssphäre als den Kern des Kapitalismus, gab aber diese Vorstellung mit der Begründung, dass im Gegensatz zu Marx‘ Einschätzung nicht nahezu alle Menschen zu Industrieproletariern werden, sondern die Anzahl der Industrieproletarier in hoch entwickelten kapitalistischen Ländern gemessen an der Masse der Lohnabhängigen systematisch sinkt, zugunsten der gesamten Arbeitssphäre auf. Das einzige Unterscheidungskriterium innerhalb der Lohnabhängigen besteht nach Castoriadis in ihrer Einstellung zum bestehenden System. (Vgl. Castoriadis, Cornelius: Warum ich kein Marxist mehr bin. S. 49-52.)
[18] Castoriadis betrachtet diesen Konflikt als im bestehenden Rahmen unlösbar, geht aber nicht davon aus, dass die Krise des kapitalistischen Systems nicht zwangsläufig zu dessen Ende führen muss. Die Alternative zur Überwindung des Kapitalismus als einer gesellschaftlichen Totalität und dessen Krise besteht nach Castoriadis darin, dass die kapitalistische Gesellschaft mit ihrer Krise weiter existiert.
[19] Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 137.
[20] Ebd. S. 139.
[21] Ebd. S. 142.
[22] Vgl. ebd. S. 144-145.
[23] Ebd. S. 145.
[24] Ebd. S. 147.
[25] Vgl. ebd. S. 148.
[26] Ebd.
[27] Ebd. S. 162.
[28] Ebd. S. 167ff.
[29] Ebd. S. 169. (Hervorhebung im Original).
[30] Ebd. S. 151.
[31] Ebd. S. 154. Castoriadis‘ Meinung, dass die revolutionäre Politik lediglich nachzuweisen hat, dass ihre Vorschläge keine inneren Widersprüche haben, und seine Distanzierung vom Szientismus, indem er die Beweislast bezügliche einer zukünftigen Revolution ablehnt, decken sich mit der Theorie des italienischen Anarchisten Errico Malatesta über „Wissenschaft und Anarchismus“. (Vgl. Malatesta, Errico: Anarşizm ve Bilim. In: Richards, Vernon (Hrsg.): Bir İtalyan Anarşisti. Malatesta. Hayatı ve Düşünceleri. Istanbul 1999, S. 26-35. )

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