Sonntag, 30. Januar 2011

schlusswort

6. Schlusswort
Wir verdanken Castoriadis nicht nur eine radikale Kritik der marxschen Theorie, sondern auch den Versuch, neue Wege zu erschließen, die zur Verwirklichung der menschlichen Emanzipation führen könnten, die nun die Gestalt einer autonomen Gesellschaft annehmen soll.
Der Autonomiegedanke zieht sich wie ein roter Faden durch das castoriadissche Werk, verbindet sein frühes Werk, das als eine Selbstkritik des Marxismus begann, mit seiner späteren, kategorischen Marxkritik, seinen ontologischen Überlegungen und seiner Praxisphilosophie, welche meines Erachtens als einen konsequenten und positiven Ausbau der castoriadisschen Marxkritik zu betrachten sind.
Meine These ist, dass das castoriadissche Werk durch die Würdigung des Politischen, das bei Marx auf zu einem Produkt des Ökonomischen degradiert wird, und die zentrale Stellung der Machtfrage als einer explizit politischen einerseits die Relevanz des politischen Handelns betont, andererseits eine neue Perspektive für emanzipatorisches politisches Handeln aufmacht.
An dieser Stelle möchte ich anhand der Erkenntnisse, die im Laufe der Arbeit gewonnen wurden, darstellen, welche emanzipatorischen Momente durch das castoriadissche Werk freigesetzt wurden.
Im ersten Kapitel, das von den Erfahrungen des jungen Castoriadis in Griechenland handelt, habe ich die Quellen dargestellt, die Castoriadis die ersten Denkanstöße für eine Kritik zuerst am Stalinismus, folgend am traditionellen Marxismus und schließlich an der marxschen Theorie überhaupt gaben.
In seiner Jugend in Griechenland entwickelte Castoriadis ein Interesse für Philosophie und Politik, u.a. für Marx, Weber, Kant, Husserl, Platon und Aristoteles. Die Gedanken dieser Denker haben Castoriadis nachhaltig beeinflusst und sind stets in sein Werk eingeflossen. Dies bedeutet natürlich nicht, dass Castoriadis‘ philosophisches Schaffen eine einfache Addition der Werke jener großer Denker wäre, deren Arbeiten ihn ein ganzes Leben lang beschäftigten: Ihre Gedanken, die sich in seiner Philosophie wiederfinden lassen, dachte Castoriadis weiter, kritisierte und wandelte sie um, verwarf sie oder entwickelte seine eigene Philosophie in Auseinandersetzung mit diesen.
Ausschlaggebend für seine radikale Kritik an Marx waren jedoch vielmehr seine praktischen Erfahrungen: Sein gescheiterter Reformversuch innerhalb der Kommunistischen Partei, der ihn den bürokratisch-dogmatischen Charakter der kommunistischen Parteien erkennen ließ, die er später als totalitäre Mikrogesellschaften bezeichnete; aber auch die Verfolgung anders denkender Linker durch den bewaffneten Arm der Kommunistischen Partei und schließlich der gescheiterte stalinistische Machtergreifungsversuch ließen Castoriadis die kommunistischen Parteien in einem anderen Lichte sehen: „Die Beobachtung und Erfahrung der stalinistischen Bewegung während der Besatzung zeigte mir immer klarer ihren totalitären Charakter. Ihre organisatorische Struktur war (und bleibt noch heute überall) völlig totalitär. Keine interne Diskussion war möglich und keine andere Meinung oder irgendeine Art von Opposition innerhalb oder außerhalb der Partei wurde toleriert. Diese Tatsache brachte mich auf den Gedanken, dass die kommunistische Partei keinesfalls mit einer Reformpartei gleichzusetzen war. Ein solcher totalitärer Parteimechanismus (der gleichzeitig die absolute Kontrolle über wichtige militärische Kräfte innehatte, die genauso totalitär organisiert waren) enthielt ‚seit Herstellung‘ einen angeborenen Automatismus, eine unaufhaltsame Tendenz zur Machtergreifung und zur totalitären Machtausübung.“[1] Der Kern seiner Stalinismuskritik war entstanden.
Im zweiten Kapitel, „Socialisme ou Barbarie“, habe ich geschildert, wie Castoriadis ausgehend von seiner Stalinismuskritik eine allgemeine Bürokratiekritik als eine dem Kapitalismus innewohnende Idealtendenz entwickelte. Beinhaltete die Stalinismuskritik, die Castoriadis aufgrund seiner Erfahrungen in Griechenland und der politischen Situation in Osteuropa formuliert hatte, die Frage nach der Organisierung der Macht, so tritt die Machtfrage in seiner Theorie des bürokratischen Kapitalismus, der sowohl für die realsozialistischen Regimes im „Osten“ als auch für die „liberalen Oligarchien“ im „Westen“ Gültigkeit beanspruchte, viel offener zu Tage. So formulierte Castoriadis z.B. den von Marx ökonomisch definierten Grundwiderspruch des Kapitalismus politisch um, indem er dem Kapitalismus einerseits die Tendenz, aus dem Menschen, dem Subjekt, durch den Ausschluss aus Entscheidungsprozessen in der Produktionssphäre ein Objekt – ein „Produktionsmittel“ zu machen, und andererseits die Angewiesenheit auf die Nicht-Vollendung jener Tendenz attestierte.
War die castoriadissche Bürokratietheorie anfangs an Max Webers und Marx‘ Theorien angelehnt, verschwanden die marxschen Elemente mit der Zeit in zunehmendem Maße.
Der zwar vor allem in der Produktionssphäre verortete, aber machtpolitische Grundwiderspruch des Kapitalismus führte zu einer Sozialismusdefinition als autonome Gesellschaft, in deren Zentrum die Frage nach der Organisierung der gesellschaftlichen Macht stand.
Castoriadis zufolge vermochte die marxsche Theorie auf die Bürokratiefrage als eine Machtfrage nicht zu antworten und schließlich durch die Feststellung, dass die Entstehung der Bürokratie nicht auf ökonomischem, sondern auf politischem Wege erfolgte und durch die Erweiterung der Teilung in „dirigeants“ und „executants“ in der Produktionssphäre auf die ganze Gesellschaft, sprengte Castoriadis den marxschen Bezugsrahmen.
Einerseits die Betonung des alltäglichen impliziten Widerstands der Arbeiter in der Produktionssphäre, andererseits die Anerkennung des revolutionären Potentials von sozialen Bewegungen (wie z.B. die Bewegungen der Jugendlichen und der Frauen, der Antimilitarismus und der Kampf der Minderheiten um Anerkennung und Rechte) durch die Erweiterung der Machtfrage auf die ganze Gesellschaft; machte aus der Politik eine alltägliche Sache, die alle Menschen betrifft. Das marxsche revolutionäre Subjekt, das Industrieproletariat, verlor dadurch seine zentrale Stellung in Castoriadis‘ Theorie. Das Aufgeben der Idee eines bestimmten revolutionären Subjekts und die Erklärung der radikalen Umwälzung der Gesellschaft zur Sache der Mehrheit der Menschen stellt meines Erachtens in gewisser Hinsicht eine Vorwegnahme der Entstehung der neuen sozialen Bewegungen ab Ende der 1960er Jahre dar.
Die obigen Überlegungen führten dazu, dass das Unternehmen, die praktisch-politischen Intentionen der marxschen Theorie durch eine entschlossene Preisgabe ihrer zentralen Grundprämissen zu retten, nicht mehr tragfähig war. So verabschiedete sich Castoriadis endgültig von der marxschen Theorie.
Im vierten Kapitel beleuchtete ich die castoriadissche Marxkritik. Da Castoriadis‘ Bruch mit dem Marxismus dadurch geschah, dass er zu dem Schluss kam, dass man sich entscheiden müsse, entweder Marxist zu bleiben oder aber dem Entwurf einer radikalen Umwandlung der Gesellschaft treu bleiben, baute Castoriadis seine Kritik an der marxschen Theorie aus, so dass eine Erneuerung des revolutionären Entwurfs durch die Feststellung der Sackgassen der marxschen Theorie möglich wurde.
Ich vertrete die These, dass die castoriadissche Kritik an den so genannten Gesetzen „der Erhöhung der Ausbeutungsrate“, „der Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals“ und „des tendenziellen Falls der Profitrate“ die Verfangenheit der marxschen Theorie in einer Denkweise offen legte, die der kapitalistischen Gesellschaft eigen ist. Der homo oeconomicus, in dem Castoriadis meines Erachtens zurecht den Zwillingsbruder der kapitalistischen Gesellschaft sieht, wird von Marx zum Menschen schlechthin erklärt. Die Behauptung, Menschen hätten bereits seit dem Beginn ihrer Geschichte gehandelt, um die Natur zu unterwerfen und immer mehr zu konsumieren bzw. immer mehr Reichtum anzuhäufen, lässt die Existenz unzähliger Gesellschaften außer Acht, die diesem Schema nicht entsprechen, und unterstellt dem Menschen eine Essenz, die durch die anthropologischen Untersuchungen schon zu Marx‘ Zeiten widerlegt wurde.
Des Weiteren zeigt Castoriadis auf, dass die marxsche Theorie da Invariablen sieht, wo Variablen sind: Die Abhängigkeit der Höhe der Löhne, folglich auch die des Lebensstandards der Arbeiter von darum geführten Kämpfen ist dabei nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite steht nämlich die Werttheorie: In der qualitativen Wertgleichheit der abstrakten Arbeit, in der Marx die Offenlegung einer bis zum Kapitalismus verborgen gebliebenen Realität entdeckt, sieht Castoriadis die Tendenz der kapitalistischen Gesellschaft, die Menschen in Dinge und die menschliche Arbeitskraft in eine Ware zu verwandeln.
Ich finde, dass die Kritik an den marxschen ökonomischen „Gesetzen“ deshalb von großer Bedeutung ist, weil diese durch das Primat der Ökonomie in der marxschen Theorie eine Schlüsselposition im marxschen Gesamtwerk innehaben. Sie werden objektiven Gesetzen hochstilisiert, aus denen heraus der Untergang des „Reiches der Notwendigkeit“ und die Geburt des „Reiches der Freiheit“ begründet werden soll. Dies macht meines Erachtens auch die marxsche Theorie und Philosophie der Geschichte unhaltbar, denn Marx weist dem menschlichen Handeln im Kapitalismus die Rolle eines bloßen Vollstreckers ökonomischer Gesetze zu und wenn die marxsche Analyse jener Gesetze fehlerhaft ist, bricht das ganze marxsche Gedankengebäude zusammen.
Die Stellung des menschlichen Tuns bleibt nach der marxschen Theorie im Grunde genommen immer dieselbe: Es sind nicht nur die „Gesetze“ des kapitalistischen Wirtschaftssystems, sondern die Entwicklung der Produktivkräfte bestimmt, wie das gesellschaftliche Leben auszusehen hat und wann ein Gesellschaftssystem, das sich bei Marx konsequenterweise hauptsächlich in Produktionsverhältnissen verkörpert, unterzugehen hat. Somit wird die Politik, sogar das menschliche Handeln überhaupt zu einem Affekt der ökonomisch-technischen Prozesse degradiert. Ich möchte hiermit die Wichtigkeit der Ökonomie und Technologie an sich nicht leugnen. Wie eine Gesellschaft ihren Reichtum produziert und distribuiert, sagt freilich viel über diese Gesellschaft aus, allerdings finde ich es äußerst problematisch einer gesellschaftlichen Sphäre eine den anderen übergeordnete, sie determinierende Rolle zuzuschreiben: Da verschiedene Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ständig aufeinander Einfluss nehmen, so dass eine kleine Veränderung in dem einen Bereich zu größeren Veränderungen in dem anderen führen kann, ist die ökonomische und technologische Entwicklung stets in das gesellschaftliche Ganze eingebettet.
Castoriadis‘ Ansatz, allen gesellschaftlichen Sphären eine relative Autonomie zuzuschreiben und das Verhältnis zwischen diesen nach jeweiliger Epoche bzw. Gesellschaft neu zu definieren, ist aus meiner Sicht angesichts der Existenz sich voneinander grundsätzlich unterscheidender Gesellschaften nicht nur die Vergangenheit betreffend, sondern noch heute erfolgsversprechender als der marxsche Basis-Überbau-Schema, da die Menschen – trotz des flächendeckenden Sieges der kapitalistischen Ökonomie – je nach Kultur[2] in unterschiedlichem Maße, aber niemals ganz im homo oeconomicus aufgehen. Castoriadis‘ Ansatz sieht auch vor, durch die Untersuchung verschiedener Sphären und ihr Verhältnis zueinander Tendenzen aufzuzeigen, die sich weiter entwickeln könnten, und die Menschen ihrer politischen Einschätzung jener Tendenzen entsprechend sie stärkend bzw.  bekämpfend intervenieren könnten. Dadurch, dass er die Entscheidung, welche Tendenzen sich überhaupt durchsetzen, letztendlich vom Handeln der Menschen abhängig macht, erkennt Castoriadis die Fähigkeit des Menschen zum freien Handeln an, das natürlich stets in ein gesellschaftliches Ganzes eingebettet ist und sich an das Vorfindliche anlehnt, ohne aus ihm heraus vollständig erklärt werden zu können, und dementsprechend spielt bei ihm der politische Raum eine viel größere Rolle als bei Marx.
Die antinomische Struktur der marxschen Theorie, auf die Castoriadis hinweist, wurde vor ihm bereits von Karl Korsch thematisiert. Allerdings unterscheidet sich Castoriadis‘ Theorie von der Sichtweise von Korsch darin, dass letzterer eine Synthese von dem szientistisch-spekulativen Moment und dem revolutionär-klassenkämpferischen Moment für möglich hält, während ersterer den Sieg des Szientistischen über das Revolutionäre interpretiert.
Wie ich oben dargestellt habe, sieht Castoriadis nicht nur in der marxschen Theorie einen Gegensatz zwischen den szientistisch-spekulativen und revolutionären Momenten, sondern er formuliert eine grundsätzliche Kritik an der abendländischen Philosophie, die von der Bestimmtheit des Seienden ausgeht, und plädiert für eine Neudefinition des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis.
Castoriadis verfasst in seinem Hauptwerk, „Gesellschaft als imaginäre Institution“, aber auch in weiteren Büchern und Aufsätzen seine ontologischen Überlegungen, die das Sein als Nicht-Bestimmt-Sein neu definieren und in der Geschichte nicht nur die Widerkehr des bereits Seienden, sondern auch die Genese des Neuen sehen, welche nicht auf das Vorfindliche zurückzuführen sei aber sich daran anlehne.
Da seiner Meinung nach sowohl das radikale Imaginäre, also die Fähigkeit des Menschen, sich das vorzustellen, was nicht ist, als auch die Irrationalität des Natürlichen jenseits der primären – d.h. dem Wahrnehmungsapparat des Menschen zugänglichen – natürlichen Schicht eine systematische und vollständige Theorie des Gesellschaftlich-Geschichtlichen unmöglich machen; schlägt Castoriadis vor, dass die (politische) Theorie einen Entwurfscharakter haben, d.h. sich ohne Anspruch auf vollständiges Wissen über das Objekt, aber auch über das Subjekt der Praxis entwickeln und offen sein soll, durch ständige Überprüfung aufgrund praktischer Erfahrungen korrigiert, umgewandelt, aber auch verworfen zu werden. Ohne an dieser Stelle die grundsätzliche Nicht-Bestimmtheit des Seienden nachweisen zu können,[3] vertrete ich die Meinung, dass alleine die Komplexität des Seienden – selbst wenn man annehmen würde, dass die Welt in Kausalbeziehungen aufgeht – jeglichen Anspruch auf vollständiges und systematisches Wissen über die Gesellschaft und die Geschichte lächerlich macht. Aus diesem Grund stellt das von Castoriadis vorgeschlagene Konzept meines Erachtens ein organisches Verhältnis zwischen Theorie und Praxis dar, das eine potentielle Lösung für zwei Probleme von großer Wichtigkeit bietet: Erstens die Herrschaft des Wissens gegenüber dem Tun, und zweitens den Dogmatismus. Was das erste Problem betrifft, kann man sagen, dass dadurch, dass die Theorie nicht mehr den Anspruch erheben könnte, ihren Gegenstand vollkommen durchleuchtet zu haben, würde es möglich, das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis heterarchisch neu zu definieren. Was den Dogmatismus angeht, bin ich der Meinung, dass alleine die Neudefinition des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis zur Lösung dieses Problems einen erheblichen Beitrag leisten würde. Darüber hinaus erleichtert eine Theorie, die nicht den Anspruch hat, ein seinen Gegenstand vollkommen erschöpfendes, rationales Ganzes zu bilden, auch die Erschließung neuen Wissens in das Bestehende. Die Konsequenzen des Gegenteils sind u.a. bei vielen dogmatischen Marxisten zu beobachten, die die marxschen Werke nahezu als heilige Schriften betrachten; in Situationen, in denen die marxsche Wahrheit (genauer ausgedrückt ihre Interpretation derer) nicht der Wirklichkeit entspricht, muss die Wirklichkeit so lange interpretiert werden, bis sie der Wahrheit entspricht.
Meines Erachtens ist sowohl die castoriadissche politische Philosophie als auch der von ihm vorgeschlagene Theorietypus ist weniger geeignet für dogmatisches Denken als der Marxismus. Dies drückt sich auch in der Sprache beider Denker: Castoriadis ‚meint‘, ‚glaubt‘ und ‚schlägt vor‘, während Marx ‚nachweist‘.
Der castoriadissche Entwurf der autonomen Gesellschaft entspricht meiner Meinung nach dem von ihm vorgeschlagenen Entwurfscharakter. Da Castoriadis eine gleichzeitige Veränderung des Subjektes der politischen Praxis, d.h. der Menschen, mit der Veränderung ihres Objektes, d.h. gesellschaftlicher Institutionen, vorsieht, verzichtet er darauf, seine Überlegungen zu Ende zu denken, zu konkretisieren, und belässt es bei grundsätzlichen Bestimmungen, die eine solche Gesellschaft ausmachen könnten. Der Entwurf einer Gesellschaft, die sich selbst instruiert, also eine nicht aufhörende Bewegung ist, wird dem schöpferischen Potential der Menschheit, die unterschiedlichste Gesellschaften hervorgebracht hat, einerseits, und der relativen Autonomie verschiedener gesellschaftlicher Sphären und der daraus folgenden Unmöglichkeit einer ewigen Lösung auf alle vorstellbaren Fragen, die das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen betreffen, andererseits viel mehr gerecht als die teleologische Vorstellung eines „Himmel auf Erden“, die am Ende der Geschichte  steht.
Abschließend möchte ich zusammenfassen, welche Momente für eine emanzipatorische und gesellschaftskritische Philosophie und Politik von Castoriadis‘ Marxkritik und Autonomieentwurf freigesetzt wurden: Erstens stellt das castoriadissche Werk eine Betonung der Relevanz des Politischen und eine Würdigung der Demokratie dar. Zweitens enthüllt seine Kritik an der marxschen Theorie den marxschen Szientismus, der von späteren Marxisten aufgegriffen wurde und die Dogmatisierung des marxschen Werkes bis hin zu einem nahezu religiösen Glauben ermöglichte, was wiederum neben weiteren Faktoren dem Verkommen der marxschen Theorie zu einer Legitimationsideologie repressiver Staaten beitrug. Drittens ermöglicht die Anerkennung der relativen Autonomie aller gesellschaftlichen Sphären und des sich je nach Gesellschaft bzw. Epoche unterscheidende Verhältnisses zwischen diesen eine realistischere Untersuchung der Geschichte bzw. der Gesellschaft einschließlich der heutigen. Viertens bieten die castoriadissche Ontologie, die die Nicht-Bestimmtheit des Seienden diagnostiziert, und die daraus folgende Praxisphilosophie, die das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis neu definiert, meines Erachtens potentielle Lösungen für zwei wichtige Probleme: die Herrschaft der Theorie über die Praxis und den Dogmatismus. Und schließlich steht der castoriadissche Entwurf der autonomen Gesellschaft als einer offenen Gesellschaft im Einklang mit dem schöpferischen Potential der Menschheit und der Unmöglichkeit einer ewigen Lösung aller das gesellschaftliche Leben betreffenden Fragen.


[1] Κορνήλιος Καστοριάδης, Το επαναστατικό πρόβλημα σήμερα, Εκδόσεις Ύψιλον, 1984, S. 11. Zitiert nach: Tassis, Theofanis: Castoriadis Cornelius: eine Disposition der Philosophie. S. 13.
[2] Unter „Kultur“ ist in diesem Zusammenhang  nicht nur die nationale oder regionale Kultur zu verstehen, sondern die unterschiedlichen Kulturen innerhalb einer Gesellschaft nach Klassen, Millieus usw. sind miteinbegriffen.
[3] Meines Erachtens ist Castoriadis‘ Versuch, nachzuweisen, dass das Seiende nicht im Rationalen aufgeht, ist in nicht lösbare methodische Schwierigkeiten verstrickt. Auf den ersten Blick scheint es so, dass die Entdeckung einer Seinsweise, die nicht in einem kausalen System aufgeht, Castoriadis‘ These nachweisen könnte; allerdings müsste man gleichzeitig nachweisen können, dass kein größerer kausaler Zusammenhang existiert, in den sich das entdeckte auf den ersten Blick irrationale Moment einschließen lässt. Dies gilt ebenfalls für dessen Gegenteil, d.h. die Behauptung, alles Seiende würde ein rationales Ganzes bilden. Mit einer Ausnahme: Meines Erachtens würde die einzige theoretisch mögliche Lösung dieses Problems darin bestehen, dass ein Kausalzusammenhang definiert wird, der alles Seiende enthält; da es aber praktisch eine Unmöglichkeit bleibt, das erschöpfende Wissen über alles Seiende zu besitzen, kann die Frage nach der Rationalität des Seienden nur spekulativ beantwortet werden.

Samstag, 29. Januar 2011

EINLEITUNG


1. Einleitung
Wenn man heute von Philosophie, Politik oder einfach von unserer Gesellschaft redet, kann der Marxismus als eine philosophische Strömung und eine politische Bewegung nicht ignoriert werden, denn er war mehr als nur eine weitere philosophische Schule, sein Einfluss beschränkte sich nicht auf akademische Kreise, erstreckte sich stets – wie Marx es ausdrücken würde – in das ‚wirkliche Leben‘ hinein und veränderte unsere Gesellschaft nachhaltig. Als die vorherrschende Ideologie der historischen Arbeiterbewegung, als Zündstoff für die 68er Revolte war die marxsche Theorie immer in die kapitalismuskritische Politik verflochten, und irgendwie ist sie das noch heute. Von der Linkspartei über parteikommunistische Sekten oder Wertkritiker bis hin zu (Post-)Operaisten stellt der Marxismus – in seiner einen oder anderen Interpretation – einen philosophischen und politischen Bezugspunkt für kapitalismuskritische bzw. antikapitalistische Politik dar.
Einst antwortete Michel Foucault auf die Frage, wie er sich zu Marx verhalte, indem er Marx‘ Rolle für das gesellschaftskritische Denken unserer Zeit mit dem verglich, was Newton und Einstein für die heutige Physik darstellen – mit seinen eigenen Worten:  „Verspürt denn ein Physiker das Bedürfnis, Newton oder Einstein ausdrücklich zu zitieren? Er verwendet sie einfach und braucht keine Anführungszeichen, keine Fußnote und keine Lobrede, die seine Treue gegenüber dem Denken des Meisters unter Beweis stellen.“[1]
Foucaults Worte zeigen die Wichtigkeit der marxschen Theorie für radikale Gesellschaftskritik. Tatsächlich ist die marxsche Theorie nicht nur in der politischen Auseinandersetzung mit dem bestehenden Gesellschaftssystem tief verwurzelt, sondern auch viele Intellektuelle, die das politische Denken der Zeit nach Marx präg(t)en, setzten und setzen sich mit ihr auseinander. In diesem Rahmen eine vollständige Liste dieser Denker zu erstellen ist unmöglich, aber Namen wie Hannah Arendt, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Karl Popper, Jean-Paul Sartre, Michel Foucault, Antonio Negri oder Pierre Bourdieu genügen meines Erachtens, die Relevanz zu demonstrieren, die der Marxismus für die politische Philosophie hat.
Die Medaille hat jedoch auch eine Kehrseite: Kündigte Marx die Aufhebung der Ausbeutung und der Unterdrückung und das Kommen eines neuen Zeitalters der menschlichen Emanzipation; mit seinen eigenen Worten: „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“,[2] an; scheiterten bisher alle politischen Bewegungen, die auf der Grundlage der marxschen Theorie versuchten, das Projekt der menschlichen Emanzipation zu verwirklichen: Während im ‚Osten‘, d.h. in den so genannten realsozialistischen Ländern, der Marxismus zu einer staatstragenden Ideologie, einer Legitimation autoritärer Regimes wurde, entschärfte er sich im ‚Westen‘ durch die Entstehung der Sozialdemokratie  und die Integration der historischen Arbeiterbewegung durch das Verkommen der Gewerkschaften zu bürokratischen, staatstragenden Apparaten größtenteils.
Marx zielte freilich nicht auf die Errichtung von autoritären Regimes, geschweige denn von Gulags, ab; aber diese waren Teil der bedeutendsten Früchte der marxistischen Bewegung in ihrer Historizität. Angesichts dieser Tatsache vertrete ich die Meinung, dass das nach wie vor durchaus wichtige Werk von Marx heute nur noch durch eine kritische und radikale Auseinandersetzung mit diesem zu würdigen ist. Von dieser Position ausgehend werde ich mich in dieser Arbeit mit der castoriadisschen Marxkritik und seinem Autonomieentwurf beschäftigen, der nach neuen Wegen sucht, die menschliche Emanzipation zu verwirklichen.
Auch Castoriadis verglich Marx mit Newton, aber um andere Schlüsse zu ziehen als Foucault: „Ein Physiker, der sich heute die Aufgabe stellen würde, die newtonsche Physik gegen alles und jeden zu verteidigen, würde sich zur völligen Sterilität verdammen – und würde zweifellos jedesmal in Wutausbrüche geraten, wenn man solche Ungeheuerlichkeiten wie Antimaterie erwähnte, oder Teilchen, die gleichzeitig Wellen sind, die Expansion des Weltalles oder den Zusammenbruch von Kausalität, Identität und Bestimmung des Ortes als absolute Kategorien. Die bedauernswerte Situation des Revolutionärs, der heute nur noch den ‚Marxismus‘ (oder ein paar von ihm ausgeliehene Ideen) ‚verteidigen‘ möchte, ist genauso hoffnungslos.“[3]
Cornelius Castoriadis, als Schöpfer eines eigenständigen, keiner Richtung zuzuordnenden theoretischen Werkes und „letzter Universalgelehrter“[4] (Philosoph, Mitbegründer der Zeitschrift Socialisme ou Barbarie, politischer Denker, Soziologe, Ökonom, praktizierender Psychoanalytiker, Erneuerer der freudschen Theorie, Sowjetologe, Demokratietheoretiker und radikaler politischer Aktivist), ist einer der interessantesten Denker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Trotzdem blieb er in Deutschland – abgesehen von wenigen Ausnahmen – unbeachtet oder wurde als eine ‚französische Anomalie‘ wahrgenommen. In den letzten Jahren scheint Castoriadis jedoch in akademischen Kreisen ein zunehmendes Interesse zu erwecken. Schriften von Andrea Gabler und Harald Wolf und der von diesen mitbegründete Verein für das Studium und die Förderung von Autonomie könnten hierfür aktuelle Beispiele liefern.
Castoriadis‘ Werk begann als eine Selbstkritik des Marxismus, die Axel Honneth in dieselbe Theorietradition wie Karl Korsch, Maurice Merleau-Ponty und Edward Palmer Thompson einordnet.[5] Da es nicht primär philosophisch-theoretische Überlegungen waren, die Castoriadis an der marxschen Theorie zweifeln ließen, sondern Erfahrungen der politischen Praxis;[6] beginnt die Arbeit mit Castoriadis‘ Jugend in Griechenland. Schon zu dieser Zeit kommen die zwei Sachen, linksradikale Politik und Philosophie, zum Vorschein, die ihn ein ganzes Leben lang beschäftigen werden: Seine kurze Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei, die er später als „eine totalitäre Mikrogesellschaft“[7] bezeichnen sollte; seine Kritik am Stalinismus aus einer emanzipatorischen linken Perspektive und die erste Bekanntschaft mit der Philosophie, vor allem mit Marx, Kant, Max Weber und den großen Philosophen der griechischen Antike, Platon und Aristoteles; waren Erfahrungen, die in Castoriadis‘ Denken nachhaltige Spuren hinterließen.
Im zweiten Kapitel der Arbeit werde ich Castoriadis von seiner Ankunft in Frankreich in 1945 bis hin zur Auflösung von Socialisme ou Barbarie in 1967 begleiten. In diesen Jahren beschritt Castoriadis die ersten, aber entscheidenden Schritte eines Weges, der ihn von der Selbstkritik des Marxismus hin zu einer Selbstüberschreitung des Marxismus führen sollte.
Socialisme ou Barbarie war eine linkslibertäre Gruppe, die sich von der trotzkistischen IV. Internationale abspaltete und der Erneuerung der marxistischen Theorie und Neuorientierung der revolutionären Bewegung widmete. Castoriadis und Claude Lefort, ein Schüler des Philosophen Merleau-Ponty,[8] entwarfen im Rahmen ihres marxistischen Erneuerungsprojektes die Theorie des „bürokratischen Kapitalismus“, die sich an Theorien von Karl Marx und Max Weber anlehnte und die Bürokratisierung als eine dem Kapitalismus innewohnende Idealtendenz zu entlarven behauptete. Castoriadis gab dadurch dem von Marx ökonomisch definierten ‚Grundwiderspruch des Kapitalismus‘ eine machtpolitische Gestalt, indem er der kapitalistischen Gesellschaft sowohl im ‚Westen‘ als auch im ‚Osten‘ die Teilung in ‚Leitende‘ und ‚Ausführende‘ attestierte und einen unlösbaren Widerspruch zwischen dem Ausschluss der Arbeiter aus allerlei Entscheidungen in der Produktionssphäre und der Angewiesenheit des (bürokratischen) Kapitalismus auf ihre Entscheidungen als ein Korrektiv für (unrealisierbare) bürokratische Pläne entdeckte.
Der castoriadissche Versuch, die praktisch-politischen Intentionen des Marxismus zu retten, führte zur Preisgabe seiner zentralen Grundannahmen: Als sich die Grundzüge seiner Gesellschaftstheorie, die auf einen radikaldemokratischen Sozialismus abzielt, bruchstückhaft abzuzeichnen begannen, hatte Castoriadis u.a. den historischen Materialismus, das Primat der Ökonomie und das marxsche revolutionäre Subjekt, das Industrieproletariat, bereits über Bord geworfen.
Im darauf folgenden Kapitel werde ich auf die castoriadissche Marxkritik eingehen, deren Konturen sich schon im dritten Kapitel der Arbeit abgezeichnet haben werden. Zunächst beschäftige ich mich mit der Kritik an der marxschen Ökonomietheorie, die von der Kritik an einzelnen, aber für die marxsche Ökonomie- sowie Geschichtstheorie grundlegenden Teilen bis hin zu der allgemeinen Verfangenheit der marxschen Theorie in kapitalistischen Kategorien reicht.
Anschließend werde ich mich mit Castoriadis‘ Kritik an der marxschen Theorie und Philosophie der Geschichte auseinandersetzen. Castoriadis stellt die Stellung der Ökonomie als einer autonomen Sphäre in Frage und wirft Marx vor, die Funktionsweise und Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft sowie den homo oeconomicus, dessen Genese aus castoriadisscher Sicht mit der Entstehung der kapitalistischen Gesellschaft zusammen eine Zwillingsgeburt darstellt, auf die gesamte Menschheitsgeschichte zu projizieren. Des Weiteren ist Castoriadis der Meinung, dass die marxsche Geschichtsphilosophie ein rationalistischer Objektivismus ist, bei dem der wesentliche Inhalt der hegelschen Geschichtsphilosophie erhalten bleibt. Das die marxsche Theorie dominierende szientistische Moment stellt in Castoriadis‘ Augen einen der Faktoren dar, die zur Entstehung repressiver Systeme im Namen des Marxismus beigetrugen, und zieht aus seiner Auseinandersetzung mit der marxschen Theorie den Schluss, dass nicht nur der Marxismus, sondern der Theorietypus, zu dem Marxismus gehört, versagt habe.
Im Kapitel „Autonomieentwurf“ beschäftige ich mich zunächst mit der castoriadisschen Ontologie, die im Gegensatz zur vorherrschenden abendländischen Philosophietradition steht, die laut Castoriadis schon seit Platon das Sein als Bestimmt-Sein auffasst.  Castoriadis zufolge entsteht in der Geschichte ‚Neues‘, was auf die Fähigkeit des Menschen und folglich der menschlichen Gesellschaft zurückzuführen ist, „ein Ding oder eine Beziehung zu vergegenwärtigen, die nicht gegenwärtig sind (die in der Wahrnehmung nicht gegeben sind oder es niemals waren).“[9] Aber nicht nur die Menschheitsgeschichte, sondern auch die Natur und darüber hinaus das Sein an sich ist Castoriadis zufolge nicht vollkommen rational. Auf seinen ontologischen Überlegungen beruht für Castoriadis die Möglichkeit des freien menschlichen Handelns sowie einer autonomen Gesellschaft. 
Im folgenden Teil werde ich auf die castoriadissche Neuformulierung der Praxis, der Theorie und deren Verhältnis zueinander eingehen, um im Anschluss die Konturen der autonomen Gesellschaft nach Castoriadis zu zeichnen.
Castoriadis reichert den aristotelischen Praxisbegriff normativ an, so dass er in sein Zentrum die Autonomie des Subjekts und die des Anderen stellt, während die revolutionäre Theorie bei ihm der Nicht-Bestimmtheit des Seienden entsprechend einen Entwurfcharakter erhält, so dass die Theorie – stets der Praxis untergeordnet – kein abgeschlossenes Wissen, sondern eine antizipierte Erkenntnis darstellt, die den praktischen Erfahrungen entsprechend korrigiert, erweitert oder auch verworfen werden kann. Der castoriadissche Praxisbegriff bildet auch den Kern seines Autonomieentwurfs: Die Praxis als autonomieerzeugendes Tun markiert einerseits die Meilensteine des Weges, der aus der heutigen heteronomen Gesellschaft in Richtung autonome Gesellschaft führen, andererseits ist es das menschliche Tun, auf dem die autonome Gesellschaft beruht. Castoriadis stellt grundsätzliche Überlegungen, die die autonome Gesellschaft betreffen, gibt aber der autonomen Gesellschaft keine konkrete Gestalt, da es einerseits keine perfekte Gesellschaft geben kann und andererseits die Demokratie kein Zustand, sondern eine dauerhafte Bewegung ist, die sich selbst erzeugt.  
Im letzten Kapitel, dem Schlusswort, werde ich auf ein allumfassendes Fazit verzichten und statt dessen anhand der Erkenntnisse, die in den vorgehenden Kapiteln gewonnen wurden, darstellen, welche Momente für eine emanzipatorische und gesellschaftskritische Philosophie und Politik durch Castoriadis‘ Werk freigesetzt wurden.
Castoriadis ist ein Philosoph, der mit seiner Arbeit auf einem sehr breiten Feld sehr tief gegraben hat, mit Agnes Hellers Worten „eine sehr wissbegierige Person“, die „einen philosophischen Instinkt [hat], alles wert zu finden, durchdacht zu werden“. Er ist nicht nur „an den Menschen und an der Polis interessiert“, sondern auch „an Bäumen und Steinen“, denn er „versteht Philosophie und Demokratie als Einheit, was es ihm ermöglicht, auch Spekulationen über Bäume und Steine als wichtige Manifestationen und Teilbereiche der politischen Philosophie zu verstehen.“[10] Aus diesem Grund ist nicht möglich, im Rahmen dieser Arbeit das castoriadissche Werk in seiner vollen Tiefe und Breite zu behandeln; so muss ich u.a. das psychoanalytische Werk von Castoriadis, das mit seinem Autonomieentwurf zutiefst verflochten ist, leider aus der Arbeit ausklammern; um mich auf das ausdrücklich Politische zu konzentrieren


[1] Foucault, Michel: Power and Knowledge: Selected Interviews and Other Writings 1972-1977. Brighton 1980, S. 52. (eigene Übersetzung).
[2] Marx, Karl: Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten. In: Marx-Engels-Werke Band 3. Berlin 1969, S. 35.
[3] Castoriadis, Cornelius: Postskript zur Neudefinition der Revolution. . Hamburg 1974, S. 11.
[4] Gabler, Andrea: Arbeitsanalyse und Selbstbestimmung. Zur Bedeutung und Aktualität von „Socialisme ou Barbarie“. Unveröffentlichte Dissertation. Göttingen 2006, S. 6.
[5] Vgl. Honneth, Axel: Eine ontologische Rettung der Revolution. Zur Gesellschaftstheorie von Cornelius Castoriadis. S. 145. In: ders.: Die zerrissene Welt des Sozialen. Sozialphilosophische Aufsätze. Frankfurt a.M. 1999, S. 144-164
[6] Vgl. Castoriadis, Cornelius: Warum ich kein Marxist mehr bin. S. 19. In: ders.: Vom Sozialismus zur autonomen Gesellschaft. Über den Inhalt des Sozialismus. Ausgewählte Schriften Band 2.1. Lich (Hessen) 2007, S. 19-64
[7] Castoriadis, Cornelius: Der Anstieg der Bedeutungslosigkeit. S. 17. In: ders.: Autonomie oder Barbarei. Ausgewählte Schriften Band 1. Lich(Hessen) 2006, S. 17-41.
[8] Vgl. Wolf, Harald: „Die Revolution neu beginnen.“ Über Cornelius Castoriadis und „Socialisme ou Barbarie”. S. 78. In: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, Nr. 15 (1998), S. 69-112.

[9] Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt 1997, S. 218.
[10] Alle Zitate im Absatz sind aus: Heller, Agnes: Von Castoriadis zu Aristoteles, von Aristoteles zu Kant, von Kant zu uns. S. 176. In: Pechriggl, Alice; Waldenfels, Bernhard (Hrsg.): Die Institution des Imaginären. Zur Philosophie von Cornelius Castoriadis. Wien, Berlin 1991, S. 173-188.

Donnerstag, 27. Januar 2011

PPS

ich habe bisschen umstrukturiert; deswegen habe ich die teile, die du schon gelesen hast, wieder ins netz gestellt. die musst du nicht nochmals korrigieren. ich wollte nur, dass du die neue struktur siehst.

ich muss spätestens am dienstag abgeben. daher muss ich ab morgen einleitung+schlusswort schreiben und korrigieren. hoffentlich gehts am montag in druck...

TEIL 13


5. Der Autonomieentwurf
In diesem Kapitel schildere und diskutiere ich den castoriadisschen Autonomieentwurf, der sich einerseits aus einer Praxisphilosophie, die das dem Marxismus innewohnende revolutionäre Moment ablösen soll, das im marxschen Rahmen vom szientistischen Moment unterdrückt wird, und andererseits aus der Vorstellung einer autonomen Gesellschaft zusammensetzt; und den castoriadisschen Versuch, die neuen Ontologie so neu zu definieren, so dass nicht nur das szientistische Moment der marxschen Philosophie, sondern das traditionelle abendländische Konzept des Seins als Determiniert-Sein negiert und das Sein als Nicht-Determiniert-Sein neu definiert, um das Neue begreiflich zu machen und die Praxis von der Unterdrückung des Seins als Determiniert-Seins zu befreien.
Zunächst werde ich auf die castoriadissche Ontologie eingehen, die das Sein als Nicht-Determiniert-Sein denkt. In diesem Teil werde ich mich einerseits Castoriadis‘ Kritik an der Identitäts- und Mengenlogik des abendländischen Denkens, andererseits mit seiner Geschichtsphilosophie, die die Nicht-Determiniertheit des Gesellschaftlichen und des Geschichtlichen konstatiert und der Schöpfung und dem Imaginären darin eine wesentliche Rolle einräumt.
Anschließend werde ich auf die castoriadisschen Praxis- und Autonomiebegriffe eingehen, um anhand derer den castoriadisschen Autonomieentwurf darzustellen, mit dem sich Castoriadis in die Autonomiebewegung einreiht, die vor fünfundzwanzig Jahrhunderten in Griechenland durch die Entstehung der Autonomie als eine imaginäre Bedeutung begann und in den letzten zweihundert Jahren besonders dicht und reich gewesen ist.

5.1. Die Mengen- und Identitätslogik
Wie ich oben dargestellt habe, zieht Castoriadis aus seiner Auseinandersetzung mit der marxschen Philosophie den Schluss, dass nicht nur Marxismus, sondern der gesamte Theorietypus, zu dem Marxismus gehört, nicht im Stande ist, die Gesellschaft und die Geschichte zu erklären. Diesen Theorietypus, diese Ontologie, „die das Sein als Bestimmtsein und Seiendheit als Bestimmtheit auffasst und setzt“ und „in der Ausarbeitung und Verallgemeinerung der Postulate dieser Logik [besteht]“,[1] nennt Castoriadis die Mengen- und Identitätslogik [„logique ensembliste-identitaire“].
Das mengen- und identitätslogische Denken, implizit entstanden in den platonischen und aristotelischen Werken, explizit ausgesprochen und verallgemeinert durch Hegel, bestimmt Castoriadis zufolge seit fünfundzwanzig Jahrhunderten das abendländische Denken.[2]
Um das mengen- und identitätslogische Denken zu definieren, zieht Castoriadis die cantorsche ‚naive‘ Mengendefinition heran: „Unter einer ‚Menge‘ verstehen wir jede Zusammenfassung von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten unserer Anschauung oder unseres Denkens – welche die ‚Elemente‘ der Menge genannt werden – zu einem Ganzen.“[3]
Nicht  trotz, sondern gerade wegen ihrer Zirkelhaftigkeit ist laut Castoriadis die ‚naive‘ Definition Cantors grundlegend für die Mengentheorie und „stimmt vorzüglich mit den entscheidenden Merkmalen dessen überein, was wir légein nennen wollen, das zugleich Voraussetzung und Produkt der Gesellschaft ist; Bedingung, die durch ihr Bedingtes hervorgebracht wird.“[4] Das mengen- und identitätslogische Denken im Allgemeinen weist also laut Castoriadis eine der der cantorschen Mengendefinition ähnliche Zirkularität.[5] 
Die Mengen- und Identitätslogik geht davon aus, dass das Seiende als Elemente von Mengen definiert werden können, also bestimmt und wohlunterschieden sind. Daraus folgert Castoriadis, dass das den Mengen zugrundeliegende Trennungsschema sich selbst voraussetzt: „Sobald […] ein Term oder Element wohlunterschieden und bestimmt gesetzt worden ist, ist darin zumindest schon eingeschlossen, dass dieser Term/dieses Element in reiner Identität mit sich und in reiner Differenz zu dem, was er/es nicht ist, gesetzt ist.“[6] Das Trennungschema setzt aber zugleich auch ein Vereinigungsschema als eine identische Einheit, innerhalb derer die Unterschiede zwischen ihren Elementen nicht abgeschafft, aber in diesem Kontext als nebensächlich betrachtet werden: „Die wohlunterschiedenen Objekte müssen sich zu einem Ganzen zusammenstellen lassen, das selbst wieder ein bestimmtes und wohlunterschiedenes Objekt höherer Stufe darstellt.“[7] Trennung und Vereinigung stellen aus castoriadisscher Sicht die grundlegenden Operationen des legein, der „mengenlogische[n] und mengenbildende[n] Dimension des gesellschaftlichen Vorstellens/Sagens“,[8] dar: nämlich „die Bezeichnung, die die Möglichkeit der Individuation und der Zusammenstellung reiner Diesheiten als solches voraussetzt.“[9]
Die Mengen- und Identitätslogik, die selbst eine historische Schöpfung ist, die Bestimmtheit des Seienden als Möglichkeit, definiert und unterschieden zu werden postuliert, genießt Castoriadis zufolge das Privileg, dass sie – wie ich oben dargestellt habe – eine wesentliche Dimension der Sprache; aber nicht nur der Sprache, sondern auch des gesamten Lebens und der gesamten gesellschaftlichen Praxis begründet. Im Gegensatz zur Behauptung des mengen- und identitätslogischen Denkens deckt das Mengen- und Identitätslogische nicht das Sein an sich, aber einen wesentlichen und unabdingbaren Teil dessen: Legein ist „zugleich Bedingung und Schöpfung der Gesellschaft, vom Bedingten geschaffene Bedingung.“[10] Ohne legein kann die Gesellschaft nicht existieren und können die Menschen nicht sprechen; aber die Existenz des legein setzt wiederum die Gesellschaft voraus.
Wie jede andere gesellschaftlich-geschichtliche Schöpfung auch, lehnt sich legein als „eine ontologische Entscheidung“[11] an das Vorfindliche:[12] Die vom legein instruierte Mengenbildung wird dadurch möglich, dass sich das Seiende zum Teil zur Mengenbildung eignet. Zum Beispiel sind die Wesen ‚Frau‘, ‚Mann‘ oder ‚Kind‘ in der primären natürlichen Schicht, d.h. der „feste[n] und stabile[n] Organisation desjenigen Teils der Welt, der der Organisation des Menschen als eines bloßen Lebewesens entspricht“[13], gegeben.
Allerdings erhalten ‚Frau‘, ‚Mann‘ und ‚Kind‘ ihre Bedeutungen erst in der und durch die Gesellschaft. Die Natur setzt die Grenzen der gesellschaftlichen Instituierung dieser Bedeutungen,  stützt und regt ihre Instituierung an, stellt aber keine hinreichende Bedingung dafür. Das in der Natur vorgefundene wird, „sobald [es] ins Netzwerk der gesellschaftlichen Bedeutungen eingeh[t], umgearbeitet, umgeschmolzen und im Wesen verändert.“[14] Hinzu kommt, dass das, was im Diskursuniversum der Gesellschaft existiert, nicht unbedingt in der Organisation der primären natürlichen Schicht eine Entsprechung haben muss – wie z.B. Geister, Götter, Mythen.
Das mengen- und identitätslogische Denken kann Castoriadis zufolge weder erklären, welche Mengen von der Gesellschaft definiert werden, noch über die Bedeutung dieser Mengen etwas aussagen, denn „[d]ie Gesellschaft ist keine Menge, kein System und keine Hierarchie von Mengen oder Strukturen; sie ist Magma und Magma von Magmen.“[15]  
Castoriadis behauptet schließlich, dass eine Logik ausgearbeitet werden soll, die über die Grenzen der Mengen- und Identitätslogik hinausgeht, aber betont zugleich, dass diese die Realität auch, zumindest zum Teil, in einer Weise erfassen kann, die dem Sein als Nicht-Bestimmt-Sein gerecht wird, aber die Mengen- und Identitätslogik „weder überwinden noch als Sonderfall einschließen und sie auch nicht lediglich ersetzen“[16] kann, da die Natur der Sprache dies nicht ermöglichen würde.  

5.2. Das radikale Imaginäre
Das radikale Imaginäre bildet den Kern des castoriadisschen Versuchs, das Sein als Nicht-Determiniert-Sein, als radikale Unbestimmtheit neu zu denken.[17]
Die radikale Imagination ist Castoriadis zufolge die freie und nicht zurückführbare Fähigkeit des Menschen, „ein Ding oder eine Beziehung zu vergegenwärtigen, die nicht gegenwärtig sind (die in der Wahrnehmung nicht gegeben sind oder es niemals waren).“[18]
Die Fähigkeit des Menschen, sich z.B. Gott vorzustellen, der laut Castoriadis eine gesellschaftlich-geschichtliche Schöpfung ist und keine materielle Existenz besitzt, ist auf das radikale Imaginäre zurückzuführen.
Die Bedeutung des radikalen Imaginären für die castoriadissche Geschichtsphilosophie liegt darin, dass das gesellschaftlich Imaginäre, d.h. die Schöpfung gesellschaftlich-imaginärer Bedeutungen, das für Castoriadis die Quelle dessen darstellt, was die Gesellschaft als Sinn betrachtet, als die Erhebung des radikal Imaginären zu einem kollektiven Moment zu verstehen ist.

5.3. Das Imaginäre und die Institution
Castoriadis konstruiert das Verhältnis zwischen den gesellschaftlichen Institutionen bzw. der Selbst-Instituierung der Gesellschaft und dem gesellschaftlichen Imaginären anhand seiner Kritik der funktionalistischen und strukturalistischen Sichtweise der gesellschaftlichen Institutionen.[19]
 Castoriadis erkennt die Tatsache an, dass die Institutionen lebenswichtige Funktionen für die Gesellschaft erfüllen, aber vertritt die Position, dass sie nicht auf ihre Funktionalität reduziert werden können: Die funktionalistische Theorie sei nicht fähig zu definieren, was die realen Bedürfnisse einer Gesellschaft sind, zu deren Erfüllung die Institutionen dienen sollen.[20] Während es möglich ist, die Bedürfnisse eines Lebewesens im Sinne eines biologischen Organismus auf „die Gesamtheit der Funktionen, die er erfüllt und die ihn am Leben halten“[21] zu reduzieren, ist eine solche Reduktion für einen Menschen oder gar eine menschliche Gesellschaft belanglos, da die Gesellschaft ständig neue Wege zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse und zugleich neue Bedürfnisse schafft: „Das Bedürfnis [ist] an keinen bestimmten Gegenstand zu seiner Befriedigung gebunden […] Es [gibt] also kein bestimmtes Bedürfnis der Menschheit […] Die Menschheit hat Hunger nach Nahrung gehabt, aber auch Hunger nach Kleidung und schließlich nach solcher Kleidung, die sich von der des Vorjahres unterscheidet; sie hat Hunger nach Autos und Fernsehgeräten, nach Macht und rationalem Wissen, nach Liebe und Brüderlichkeit, aber auch nach menschlichen Leichen; sie hatte Hunger nach Festen und Tragödien, und gegenwärtig scheint sie Appetit auf den Mond und die Planeten zu bekommen. Man müsste schon ziemlich schwachsinnig sein, wenn man behaupten wollte, sie habe sich all diese Arten des Hungers nur erfunden, weil sie nicht genug zu essen und zu vögeln hatte.“[22]
Das Symbolische als die Seinsweise, in der die Institutionen auftreten, aber nicht vollständig aufgehen, bildet den Kern der castoriadisschen Kritik am Funktionalismus, der Castoriadis zufolge das Symbolische trotz der Anerkennung seiner Existenz auf einen Ausdruck des stets realen und rationalistischen Inhalts der Institutionen reduziert.[23]
Zwar sind die realen, individuellen oder kollektiven Handlungen wie Arbeit, Konsum, Krieg, Liebe oder Gebären und ihre materiellen Produkte keine Symbole, nichtsdestotrotz wäre ihre Existenz aber außerhalb eines symbolischen Netzes unvorstellbar. Genauso lassen sich die gesellschaftlichen Institutionen nicht auf das Symbolische zurückführen, jedoch wären sie ohne das Symbolische nicht möglich: „[J]ede von ihnen bildet ein symbolisches Netz. Eine bestimmte Organisation der Ökonomie, ein juridisches System, eine instruierte Macht oder eine Religion existieren als gesellschaftlich anerkannte Symbolsysteme. Ihre Leistung besteht darin, Symbole (Signifikanten) mit Signifikaten (Vorstellungen, Ordnungen, Geboten oder Anreizen, etwas zu tun oder zu lassen, Konsequenzen – also Bedeutungen im weitesten Sinne) zu verknüpfen und ihnen als solchen Geltung zu verschaffen, das heißt diese Verknüpfung innerhalb der jeweiligen Gesellschaft oder Gruppe mehr oder weniger obligatorisch zu machen.“[24]
Die Religion, bei deren Ritualen das Symbolische weder auf eine Funktionalität zurückgeführt werden kann noch sich auf ein einziges Konzept bezieht; und das römische Recht, in dem das Symbolische anfangs der Funktionalität übergeordnet war, jedoch diese Stellung im Laufe der Zeit verlor und teilweise zu einem Instrument der Funktionalität wurde, zieht Castoriadis als Beispiele heran, um zu zeigen, dass die Form mit dem Inhalt bzw. der Funktion nicht zwangsweise in einem einseitigen Abhängigkeitsverhältnis steht: „Die Vorstellung, der Symbolismus sei völlig ‚neutral‘ oder, was auf dasselbe hinausläuft, entspreche vollkommen dem Ablauf der realen Prozesse, ist unannehmbar und im Grunde sinnlos.“[25]
Die symbolische Ordnung einer Gesellschaft entsteht nicht völlig frei, sondern entnimmt ihr Material dem Vorfindlichen, das sich zum Einen aus dem natürlichen Zusammenhang, zum Anderen aus vorgefundenem geschichtlichem Material, das heißt u.a. aus „den Ruinen älterer Symbolsysteme“[26] zusammensetzt. Die durch die oben genannten Faktoren eingeschränkte Freiheit des Symbolischen bedeutet allerdings nicht, dass die auf der symbolischen Ebene instituierten Regeln entweder funktional oder tatsächliche oder logische Folgen funktionaler Regeln sind. Die Logik des Symbolischen ist niemals von der der Funktionalität völlig losgelöst, genießt aber sozusagen eine relative Autonomie.[27]
Der funktionalistischen Anschauung nach könne es zwischen der Rationalität der Institution und den Konsequenzen ihrer Funktion keine Reibungen geben. Castoriadis ist anderer Meinung: Dass eine Institution Rationales enthält, sagt über das Verhältnis zwischen dem Rationalen und der Funktionalem nichts aus. Das Rationale an einer Institution, genauso wie es mit ihrer Funktionalität im Einklang stehen kann, kann sich auch in unmittelbarem Gegensatz mit dieser befinden, was bei Institutionen der Fall ist, die wahrscheinlich früher oder später zusammenbrechen. Selbst bei institutionellen Regeln, die mit den übrigen nicht im Gegensatz stehen, kann man laut Castoriadis nicht erklären, warum diese anderen, mit dem System ebenso verträglichen Regeln vorgezogen wurden.
Castoriadis erörtert die verschiedenen Koexistenzweisen des Symbolischen und der Funktionalität der Institutionen, verzichtet aber bewusst darauf, genaue Regeln über den Punkt zu stellen, von dem aus das Symbolische auf das Funktionale übergreift, denn „[w]eder lässt sich das – je nach Kultur verschiedene – Ausmaß der Symbolisierung überhaupt bestimmen, noch sind die Faktoren angebbar, weshalb sich die Symbolbildung vorzugsweise gerade auf diesen oder jenen Aspekt des gesellschaftlichen Lebens bezieht.“[28]
Schließlich betont er die Unmöglichkeit einer vollkommenen Überschneidung zwischen dem Symbolischen und dem Funktionalen, denn diese postuliert „eine Substanz, die den Institutionen vorausgehen müsste, und behauptet, das gesellschaftliche Leben habe ‚etwas zum Ausdruck zu bringen‘, das bereits volle Wirklichkeit besäße, noch ehe die Sprache verfügbar ist, in der es sich ausdrücken lässt. Aber es gibt keinen ursprünglichen ‚Inhalt‘ des gesellschaftlichen Lebens, der sich – unabhängig von den Institutionen – in diesen ‚ausdrückte‘. Ein solcher ‚Inhalt‘ ist, wenn es sich nicht um ein abstraktes, nachträglich isoliertes Bruchstück handeln soll, nur innerhalb einer Struktur definierbar, in der die Institution immer schon eingeschlossen ist.“[29]
So sehr das Symbolische für die Institutionen einer Gesellschaft wesentlich ist, gehen diese trotzdem im Symbolischen nicht auf; denn der Symbolismus, so Castoriadis, scheitert zunächst daran, Wahlkriterien für das jeweilige symbolische System seitens der Gesellschaft zu liefern.[30] Bei der Konstruktion der symbolischen Systeme bedient sich die Gesellschaft des bereits vorliegenden natürlichen und geschichtlichen Materials, das u.a. Rationales enthält. Dabei verketten sich „Signifikanten, Beziehungen zwischen Signifikanten und Signifikaten, Zusammenhänge und Konsequenzen, die weder angestrebt noch voraussehbar waren.“[31] So bestimmt das Symbolische z.T. das gesellschaftliche Leben und seine Institutionen, aber diese Bestimmung ist keine vollständige.   
Die Symbole und symbolischen Systeme stellen für Castoriadis gesellschaftlich-geschichtliche Schöpfungen dar, die einen Sinn enthalten. Dies bedeutet, dass sich die Bestimmungen des Symbolischen nicht in seinem Wesen erschöpfen, sondern sich stets auf etwas ihm äußerliches, nämlich auf die imaginären Bedeutungen, beziehen.
Das Imaginäre bedarf des Symbolischen, um nicht nur sich auszudrücken, sondern um überhaupt zu existieren, aber auch umgekehrt setzt das Symbolische das Imaginäre voraus: Jedes Symbol verfügt aus castoriadisscher Perspektive über eine imaginäre Komponente, so dass die Konstruktion symbolischer Systeme und einzelner Symbole des gesellschaftlichen Imaginären bedürfen, welches wiederum auf das radikale Imaginäre zurückzuführen ist.[32]
Castoriadis weist besonders darauf hin, dass Bedeutungen existieren, die von ihren Symbolen relativ unabhängig sind und neben der Konstruktion des Symbolischen auch die Orientierung der Gesellschaft bestimmen; d.h. dass das Signifikat, auf das der Signifikant hinweist, sich dem Begreifen durch den Signifikanten entzieht.[33]
Das Imaginäre ist jenes Moment, das das Reale, das Rationale und das Symbolische zusammenhält, das jede Gesellschaft bildet und die gesellschaftlich-imaginären Bedeutungen schafft.

5.4. Das Imaginäre und die Entfremdung
Die Entfremdung stellt für Castoriadis ein bestimmtes Verhältnis der Gesellschaft zu den von ihr geschaffenen Institutionen, nämlich die Verselbstständigung der Institutionen gegenüber der Gesellschaft, dar. In der kapitalistischen Gesellschaft drückt sich die Entfremdung hauptsächlich in der Klassenstruktur sowie in der Herrschaft einer Minderheit aus, reicht aber über diese hinaus: Erstens, weil es auch in klassenlosen Gesellschaften Entfremdung gab. Zweitens, weil das Verhältnis, in dem die Gesellschaft zu ihren Institutionen steht, nicht ein äußerliches oder ausschließlich funktionelles ist und aus diesem Grund die herrschende Klasse die übrige Gesellschaft mit einer Ideologie nur dann mystifizieren kann, wenn sie zugleich auch sich selbst mystifiziert.[34]
Die Institution ist aus castoriadisscher Perspektive „ein symbolisches, gesellschaftlich sanktioniertes Netz, in dem sich ein funktionaler und ein imaginärer Anteil in wechselnden Proportionen miteinander verbinden.“[35] Die Entfremdung, also die Verselbstständigung der Institutionen gegenüber der Gesellschaft, ist zugleich die Verselbstständigung des imaginären Moments der Institutionen.
Die Verselbstständigung und die Vorherrschaft des imaginären Moments erfolgt dadurch, dass die Gesellschaft im Imaginären der Institutionen nicht mehr ihr eigenes Produkt erkennt.
Da eine Gesellschaft ohne Institutionen und Institutionen ohne das gesellschaftliche Imaginäre unvorstellbar wären, ist es aus castoriadisscher Sicht unmöglich die Entfremdungsfrage durch eine Revolution, d.h. die Instituierung einer neuen Gesellschaft, erschöpfend zu lösen; denn „[e]s gibt immer einen Abstand zwischen der instituierenden Gesellschaft und dem, was in einem jeweiligen Moment instituiert ist.“[36] Die Gesellschaft könnte, so Castoriadis, niemals  vollständig in ihren Institutionen aufgehen; sie könnte niemals mit dem institutionellen Geflecht deckungsgleich sein. Dieser Abstand ist aber an sich nichts negatives, da darin sich die schöpferische Kraft der Geschichte äußert. Die Entfremdung erscheint in dem Verhältnis der Gesellschaft zu ihren Institutionen, sie ist aber nicht per se dieses Verhältnis.

5.5. Das Imaginäre und gesellschaftlich-imaginäre Bedeutungen
Castoriadis behauptet, dass das Imaginäre die Quelle und ein Bestandteil der geschichtlich-gesellschaftlichen Realität ist, was das Verständnis der Geschichte ohne das imaginäre Moment unmöglich macht. Das Imaginäre bildet die Kohärenz einer Gesellschaft, indem es die anderen Momente des Gesellschaftlichen miteinander bindet.
Im vorgehenden Kapitel habe ich geschildert, dass das Imaginäre die Zielsetzungen, an denen sich die Funktionalität gesellschaftlicher Institutionen orientiert und die Konstruktion der jeweiligen symbolischen Systeme bestimmt, indem es die Quelle dessen bildet, was die Gesellschaft jeweils als Sinn betrachtet.
Diese Sinnesschöpfung erfolgt dadurch, dass die gesellschaftlich-imaginären Bedeutungen die Eigenwelt der Gesellschaft bilden, indem sie die Beziehung zwischen der Gesellschaft, der Welt und sich selbst bestimmen, eine Weltanschauung bieten, die zugleich eine Selbstanschauung ist: „Keine Gesellschaft könnte existieren, ohne die Produktion ihres materiellen Lebens und ihre Reproduktion als Gesellschaft zu organisieren. Wie aber diese Organisation auszusehen hätte, entzieht sich Naturgesetzen und rationalen Überlegungen.“[37] Jede Gesellschaft genießt Castoriadis zufolge eine durch die jeweiligen oder zeitlosen Naturgegebenheiten, das Rationale, aber auch durch die ihr vorgehenden gesellschaftlich-imaginären Bedeutungen eingeschränkte Freiheit, sich selbst und ihr Verhältnis zur Welt zu gestalten: „[W]esentlich für die Geschichte ist gewiss nicht, dass die Menschen stets essen und Kinder erzeugen mussten, sondern in erster Linie die unendliche Verschiedenheit der Formen, in denen sie das taten. Wesentlich ist, dass die Welt, wie sie in ihrer Gesamtheit einer Gesellschaft gegeben ist, praktisch, affektiv und geistig in bestimmter Weise erfasst wird, dass ihr ein artikulierbarer Sinn auferlegt wird, dass Unterscheidungen vorgenommen werden zwischen dem, was Wert hat, und dem, was keinen hat […] Und wesentlich ist schließlich, dass unterschieden wird zwischen dem, was geschehen soll, und dem, was nicht geschehen darf.“[38]
Diese eingeschränkte Freiheit, die die Gesellschaft bei ihrer Selbst-Instituierung genießt, ist nicht gleichzusetzen mit Autonomie, bildet aber deren Voraussetzung: Wenn eine Gesellschaft ihre Selbst-Instituierung bewusst vollziehen und den Moment der Selbst-Instituierung sozusagen verewigen könnte, wäre nach castoriadisscher Auffassung der Unterschied zwischen Instituierung und Instituiertem, welcher die Quelle der Entfremdung ist, abgeschafft und eine autonome Gesellschaft geschöpft.[39]

5.6. Das Sein als Zeit
So wie jede Gesellschaft „die Welt als ihre Welt, ihre Welt als die Welt und sich selbst als Teil dieser Welt“[40] instruieren muss, muss sie Castoriadis zufolge auch die Zeit ihrem Welt- und Selbstbild entsprechend instruieren.
In der Geschichte haben verschiedene Gesellschaften unterschiedliche Vorstellungen von Zeit gehabt, die von offenen bis hin zu geschlossenen Zeitvorstellungen, von Homogenität der Zeit bis hin zu ihrer qualitativen Unterschiedlichkeit reichen, was unabhängig von den gesellschaftlich-imaginären Bedeutungen nicht verständlich ist, die in diesen Gesellschaften präsent waren.
Das mengen- und identitätslogische Denken kann sich laut Castoriadis die Zeit entweder als objektive, d.i. quantitativ messbare Zeit oder als subjektive, d.i. die des Erlebnisses bzw. der Erfahrung des Subjektes vorstellen.[41] Beide Ansätze sind aus castoriadisscher Perspektive problematisch: Der subjektive Ansatz ist unfähig, den Menschen ein gemeinsames Maß der Zeit zu ermöglichen, da das Gedächtnis, das Begehren und die Erwartung keine quantitativ messbare Größen sind. Dagegen erfasst der objektive Ansatz die Zeit als eine Gestalt der Ewigkeit, d.h. Zeitlosigkeit, „ein bewegliches Bild der Unvergänglichkeit“, wobei die Zeit „zu einem in Zahlen fortschreitenden unvergänglichen Bilde der in dem Einen verharrenden Unendlichkeit“[42] wird.
Ein weiteres Problem, das bei der quantitativen Messung der Zeit auftaucht, ist die Notwendigkeit eines Beobachters, d.h. die objektive Zeit bedarf eines Subjektes, das sie misst. Da aber kein zeitloses Subjekt vorstellbar ist, das außerhalb einer ihre stets die Eigenzeit beinhaltende Eigenwelt schaffenden gesellschaftlich-geschichtlichen Realität stünde, wird der Objektivitätsanspruch nicht vollständig erfüllt.
Die überlieferte Zeitvorstellung kann nach Castoriadis das Auftauchen der Unterschiedlichkeit in der Geschichte beleuchten, aber nicht das der Andersheit,[43] weil sie die der mengen- und identitätslogischen Ontologie immanente Idee des Seins als Bestimmt-Sein entkräftet. Denn die Idee des Seins als Bestimmt-Sein impliziert stets die Unveränderlichkeit der eide als ein geschlossenes System, das die Entstehung neuer eide ausschließt: „Die Anerkennung einer derartigen wesentlichen Unbestimmtheit bereitet der identitätslogischen Logik/Ontologie unüberwindliche Schwierigkeiten. Denn damit wird nicht nur das Schema der notwendigen Sukzession der Ereignisse (Kausalität) ‚in‘ der Zeit in Frage gestellt, sondern auch die Gruppe zentraler logisch-ontologischer Bestimmungen (Kategorien) wie ‚geschlossen‘, ‚gesichert‘, ‚hinreichend‘ – ganz abgesehen von der Unmöglichkeit irgendeiner ‚Deduktion‘ der Kategorien.“[44]
Ausgehend von der Andersheit und der wesentlichen Unbestimmtheit des Seins definiert Castoriadis die Zeit als „das Sein, solange das Sein Andersheit, Schöpfung und Zerstörung darstellt.“[45] Dabei erkennt Castoriadis zwei Dimensionen der Zeit an: die identitätslogische und die imaginäre Dimension. Die erstere ist „die Zeit der Messung oder der Unterwerfung der Zeit unter ein Maß, diese ist in ‚identische‘ oder im (freilich unmöglichen) Idealfall ‚kongruente‘ Abschnitte unterteilt.“[46] Die identitätslogische Zeit orientiert sich z.T. an periodischen Naturphänomenen (wie Tag, Mondmonat, Jahreszeiten oder Jahr). Die gesellschaftlich-imaginär instruierte Zeit ist dagegen „die bedeutende Zeit, die Zeit der Bedeutung.“[47]
Die identitätslogische und die imaginäre Zeit gehen nach Castoriadis miteinander ein wechselseitiges Implikationsverhältnis ein: Die imaginäre Zeit wäre ohne die identitätslogische nicht zu definieren, dagegen erhält die identitätslogische Zeit ihre Bedeutung als „Zeit“ mit Bezug auf die imaginäre Zeit, wobei beide von der Gesellschaft als solche instruiert werden.
Das Verhältnis zwischen dem Gesellschaftlich-Geschichtlichem und der Zeit als Instruiertem ist in diesem Zusammenhang durch die Entfaltung des Gesellschaftlich-Geschichtlichen als einer Andersheit gegeben, da es dadurch Zeit und Raum für sich selbst schafft: „[D]ie Zeit als solche [ist mir] noch nicht gegeben […], und gegeben ist sie mir erst durch die Andersheit, also die Tatsache, dass anderes erscheint. Demnach gibt es keine ‚reine‘ Zeit, die sich trennen ließe von dem, was zeitlich entsteht und damit die Zeit entstehen lässt. Genauer gesagt, das ‚reine‘ Schema der Zeit stellt das wesentliche Anderswerden einer Figur, die Aufsprengung und Aufhebung einer Figur durch das Auftauchen einer (anderen) Figur vor. Als solches ist dieses Schema zwar von jeder einzelnen Figur unabhängig, nicht aber von Figuren überhaupt. […] Zuerst und zutiefst ist die Zeit Andersheit/Anderswerden von Figuren, nichts sonst.“[48]
Jede Gesellschaft schöpft ihre Eigenzeit entsprechend zu ihrem Sosein. Die Schöpfung der Eigenzeit ist zutiefst mit der Selbstschöpfung der Gesellschaft verwoben. Das Gesellschaftlich-Geschichtliche als „unaufhörliches Entstehen von Andersheit“ beinhaltet „seine eigene Zeitlichkeit als Schöpfung; als Schöpfung ist es auch Zeitlichkeit, und als diese Schöpfung, gesellschaftlich-geschichtliche Zeitlichkeit überhaupt und besondere Zeitlichkeit, die nichts anderes ist als eben diese Gesellschaft in ihrer zeitlichen Seinsweise, die sie durch ihr Sein sein lässt.“[49]
Die gesellschaftliche Institution der Zeit neigt aber stets dazu, sich selbst als Instruiertes zu äußern; verdeckt dadurch die Andersheit überhaupt. Vor allem das mengen- und identitätslogische Denken setzt die Zeit auf die Vorstellung der ewigen Widerkehr des Gleichen.[50] Diese Verdeckung – egal in welcher Form – beruht nach Castoriadis in der Institution der Gesellschaft, so wie wir sie kennen, d.h. so wie sie bisher – als heteronome Gesellschaft – instruiert wurde: „Die Entfremdung der Gesellschaft wurzelt also darin, dass sie sich so instruiert, dass sie nicht sehen will, dass sie sich instruiert.“[51]
Aus diesem Grund setzt die Aufhebung der Entfremdung für Castoriadis Erkenntnis der Zeit als Andersheit/Anderswerden voraus; denn durch die Verkennung dieser Tatsache entgeht der Gesellschaft das Wissen über ihre Gesellschaftlich-Geschichtlichkeit, über sich selbst als „sich selbst erschaffende[s], als Institution ihrer selbst, als Selbstinstitution.“[52] 

5.7. Praxis, Theorie und revolutionäre Politik
Wenn man die Möglichkeit einer vollständigen und systematischen Theorie der Geschichte verneint, wie ist dann eine revolutionäre Theorie noch möglich, die „die Veränderung der Gesellschaft durch die autonome Tätigkeit der Menschen [erstrebt] und […] auf die Einrichtung einer Gesellschaft [zielt], die in ihrer Organisation der Autonomie aller entgegenkommt“?[53]
Dieser Frage antwortet Castoriadis, indem er das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis untersucht und beide neu definiert, indem er die Autonomie als ein der Praxis und der revolutionären Theorie immanentes Moment einführt. Dabei bedient er sich des aristotelischen Praxisbegriffs.[54]
Die techné ist bei Aristoteles eine schöpferische, mit Vernunft gebundene und dauerhaft erworbene Fähigkeit, die sich – genauso wie Praxis – auf Dinge richtet, die in sich selbst die Möglichkeit enthalten, anders verfasst zu sein. Der Unterschied zwischen Praxis und Technik besteht bei Aristoteles darin, dass technische Tätigkeiten sich an einem vorgegebenen, ihnen äußerlichen Ziel orientieren, während Praxis jene besondere Form der Tätigkeit darstellt, die ihren Zweck in sich trägt. Das heißt, das Ziel der Technik ist ein Werk, das außerhalb der Tätigkeit selbst besteht, die es hat werden lassen, verwirklicht sich die Praxis ihrem eigenen Vollzug.[55]
Die geschichtliche Welt ist für Castoriadis die Welt des menschlichen Tuns, wobei dieses Tun immer in Beziehung zum Wissen steht. Die zwei Pole dieser Beziehung sind das Reflexhandeln und die Technik. Rein reflexhaft sind nur die menschlichen Taten, die vollkommen unbewusst vollzogen werden und per definitionem in keiner Beziehung zum Wissen stehen. Aus diesem Grund gehören Reflexe nicht zum Bereich der Geschichte. Das Gegenteil des vollkommen unbewussten Handelns sind die „rein rationalen“ Tätigkeiten, die sich auf ein praktisch erschöpfendes Wissen über das betreffende Gebiet stützen können: Die Technik. „Hier ist das Handeln vom Wissen abhängig, ist gewissermaßen die Schlussfolgerung, die sich aus den Argumenten ableiten lässt, und beschränkt sich darauf, in der Realität für die angestrebten Ziele Mittel zu finden beziehungsweise für das Eintreffen der gewünschten Resultate Ursachen zu schaffen“[56]
Das Wesentliche des menschlichen Tuns ist nach Castoriadis weder Reflexhandeln noch Technik. Auch wenn es kein menschliches Tun ohne Bewusstsein gäbe, müssen Menschen meistens ohne (praktisch) erschöpfendes Wissen über ihr eigenes Tun und seinen Gegenstand handeln. Dies gilt neben alltäglichen Tätigkeiten auch für die Theorie, die als solche […] ein Tun, der stets ungewisse Versuch, das Projekt einer Aufklärung der Welt zu verwirklichen[, ist]“, und die Philosophie „als höchste oder äußerste Form von Theorie“[57], denn sie ist nur ein Entwurf, dessen Ursprung, Tragweite und Schicksal ungewiss sind, da sie niemals „die Verwirklichung einer vollkommenen Durchsichtigkeit der Welt für das Subjekt und des Subjekts für sich selbst“[58] sein kann.
Während Castoriadis den Technikbegriff im aristotelischen Sinne benutzt, sprengen die Eigenschaften, die er der Praxis zuschreibt, das aristotelische Bezugssystem:[59] Die Praxis ist, so Castoriadis, „dasjenige Handeln, worin die anderen als autonome Wesen angesehen und als wesentlicher Faktor bei der Entfaltung ihrer eigenen Autonomie betrachtet werden.“[60]
Die Praxis kann – im Gegensatz zur Technik – nicht in einem Zweck-Mittel-Schema gedacht werden: Die Autonomie ist nicht einfache der Zweck der Praxis, sie steht nicht nur am Ende der Praxis, sondern wohnt ihr von Anfang bis zum Ende inne. Was angestrebt wird, steht in einer inneren Beziehung zu dem womit es angestrebt wird: „Praxis ist, was die Entwicklung der Autonomie bezweckt und dazu die Autonomie benützt.“[61]
Die Praxis ist zwar eine bewusste Tätigkeit, bedarf also des Wissens; aber ihr Verhältnis zum Wissen ist nicht gleichzusetzen mit der Anwendung eines vorgängigen Wissens. Sie stützt sich stets auf ein bruchstückhaftes und vorläufiges Wissen. „Bruchstückhaft, weil es keine erschöpfende Theorie des Menschen und der Geschichte geben kann; vorläufig, weil die Praxis selbst ständig neues Wissen auftauchen lässt.“[62]
Aus diesem Grund ist der Theorietypus, der der Praxis entspricht, als einen Entwurf zu denken, der – im Gegensatz zu einer in sich abgeschlossenen Theorie – nach Maßgabe der praktischen Erfahrungen ständig korrigiert und erweitert werden kann (und soll). Das Verhältnis zwischen Wissen und Tun zeichnet sich in diesem Zusammenhang als die kontinuierliche Korrektur und Erweiterung einer vorgriffshaften Erkenntnis im experimentierenden Vollzug des Handelns ab.[63]
Das Primat der Veränderung darf nicht mit den experimentellen bzw. beobachtenden Wissenschaften verwechselt werden, bei denen die Tätigkeit der Aufklärung nur zeitlich vorausgeht, aber man der Aufklärung willen zum Experiment schreitet, denn „Aufklärung und Veränderung des Wirklichen schreiten in der Praxis in einem Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit voran, denn die Praxis findet ihre letzte Bewährung nicht in der Aufklärung, sondern in der Veränderung des Bestehenden.“[64]
Der Gegenstand der Praxis ist in zweierlei Hinsicht das Neue: Das durch die Praxis die Wirklichkeit verändernde Subjekt selbst unterliegt ständig Veränderungen durch die Erfahrung, „in die es eingebunden ist und die es macht, so wie es von ihr gemacht wird.“[65] Daraus ergibt sich eine ständige Veränderung des Verhältnisses zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Praxis, die nicht ein für allemal definiert werden können, weil sie sich ebenfalls in einer dauernden Veränderung befinden.
Der normativ angereicherte castoriadissche Praxisbegriff erhält seinen vollen Bedeutungsgehalt dadurch, dass Castoriadis das in seiner Marxkritik vorgriffshaft entwickelte Konzept revolutionärer Politik in diesen einführt. Die revolutionäre Politik, die sich in Anlehnung auf den castoriadisschen Schöpfungsbegriff die kreative Hervorbringung neuer Bedeutungswelten zur Aufgabe macht, erhält durch ihre Definition als Praxis die Bedeutung, die Tätigkeit zu sein, „die sich mit der Organisation und Orientierung der Gesellschaft auf die Autonomie aller hin befasst und die anerkennt, dass diese Autonomie einen radikalen Wandel der Gesellschaft voraussetzt, der seinerseits nur vermöge der autonomen Tätigkeit der Menschen zur Entfaltung kommen kann.“[66]
Die revolutionäre Praxis ist – wie jede andere Praxis auch – nicht in einem Zweck-Mittel-Schema angelegt, die Autonomie ist ihr Zweck und Mittel zugleich, d.h. die revolutionäre Politik entwirft auf die kollektive Vorstellungskraft gestützt eine neue (Bedeutungs-)Welt, die durch die Verallgemeinerung der revolutionären Praxis, die in revolutionären Momenten auftritt, zur Bewegungsform der gesellschaftlichen Wirklichkeit als solcher auf die Erweiterung der Autonomie zielen, und versucht durch autonomes Handeln der Menschen revolutionär in die Wirklichkeit umzusetzen.

5.8. Die Wurzeln des revolutionären Entwurfs
Der revolutionäre Entwurf, so Castoriadis, orientiert sich einerseits an Wünschen nach einer sozialistischen Gesellschaft,[67] aber lehnt sich andererseits an die Krise der bestehenden Gesellschaft. Dass die Geschichte und die Gesellschaft nicht restlos rational sind, bedeutet für Castoriadis nicht, dass sie vollkommen irrational sind: In der geschichtlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit überkreuzen sich ständig Rationales und Nicht-Rationales, was eine Analyse der bestehenden Gesellschaft im Hinblick auf ihre Bruchlinien und Krise ermöglicht.[68]
Bei der Untersuchung der kapitalistischen Gesellschaft geht es Castoriadis nicht darum, ob dieses oder jenes Ergebnis geschichtlich unvermeidbar ist, sondern ob in der heutigen Gesellschaft Anhaltspunkte für eine sozialistische Revolution zu finden sind, kurz gesagt: ob das Potential vorhanden ist, das einen radikalen Wandel der Gesellschaft in Richtung Autonomie ermöglicht.
Aus castoriadisscher Sicht bildet das Arbeitsverhältnis den Kern der kapitalistischen Gesellschaft,[69] und in dieser Sphäre existiert ein zentraler und dominierender Konflikt, der darin besteht, dass einerseits die Arbeiter durch die Teilung der Gesellschaft in „dirigeants“ und „executants“ aus den Entscheidungsprozessen möglichst weitgehend ausgeschlossen werden, und andererseits das Funktionieren der Arbeitssphäre auf die Mitwirkung der Arbeiter angewiesen ist.[70] Dieser Konflikt bedeutet aber nicht nur eine Dysfunktionalität der kapitalistischen Organisation der Arbeit, sondern trägt zugleich den Keim einer neuen Organisierung in sich: „Die Arbeiter bilden informelle Gruppen und setzen der offiziellen Organisation der Arbeit, wie sie von seiten der Unternehmensführung vorgegeben wurde, eine fragmentarische ‚Gegenorganisation‘ (contre-gestion) entgegen; [sie] entwickeln Forderungen zum Thema Arbeitsbedingungen und Arbeitsorganisation; [und sie erheben] in bestimmten Zeiten der sozialen Krise […] offen und unmittelbar den Anspruch, die Organisation der Arbeit selbst in die Hand zu nehmen, und versuchen diese Forderung in die Tat umzusetzen (Russland 1917/18, Katalonien 1936/1937, Ungarn 1956).“[71] Die Arbeiterkontrolle, d.h. die Kontrolle der Arbeit durch alle an ihr beteiligten und die Abschaffung jeglicher Bürokratie, ist nach Castoriadis die Lösung dieses dem Kapitalismus innewohnenden Konflikts, die sich durch den Widerstand der Arbeiter als eine Tendenz abzeichnet. In dem Maße, wie die gesellschaftliche Wirklichkeit eine konfligierende Struktur und zugleich den Keim zur Lösung beinhaltet, vermag „eine Beschreibung und kritische Analyse des Bestehenden die Wurzel des revolutionären Entwurfs freizulegen.“[72]
Castoriadis verortet in der Distributionssphäre ein weiteres folgenreiches Problem, dessen Lösung im kapitalistischen Wirtschaftssystem zwar nicht ausgeschlossen, aber dennoch unwahrscheinlich ist: Während die Arbeitsproduktivität in den industrialisierten Ländern in einem immer schneller werdenden Rhythmus wächst, erweist sich der Absatz der Arbeitsprodukte trotz ständiger Erhöhung des Lebensstandards als problematisch, da die meisten traditionellen Bedürfnisse der kaufkräftigen Bevölkerung gesättigt werden. Der Kapitalismus antwortet auf dieses Problem „mit der künstlichen Erzeugung neuer Bedürfnisse, der Manipulation der Verbraucher, der Entwicklung einer ‚Statusmentalität‘, wonach der soziale Rang vom Konsumniveau abhängig ist, sowie Schaffung überholter beziehungsweise parasitärer Beschäftigungen.“[73] Castoriadis bezweifelt, ob diese Bewältigungsmethoden auf Dauer genügen und sieht zwei mögliche Auswege: die Umstellung des Produktionsapparates auf die Befriedigung kollektiver Bedürfnisse oder aber die Verkürzung der Arbeitszeit. Da beide Lösungen sind nur im Sinne des Kapitalismus als eines Gesamtsystems rational sind, aber nicht aus der Interessenperspektive der einflussreichsten bürokratischen und kapitalistischen Gruppen, hält Castoriadis die Umsetzung dieser Maßnahmen zur Lösung des Distributionsfrage für unwahrscheinlich.
Außerdem vertritt Castoriadis die Meinung, dass bei der Nutzung der produktiven Ressourcen eine ungeheure Verschwendung stattfindet, für die er die Nicht-Beteiligung der Arbeiter an den Entscheidungen, die die Produktion betreffen, die bürokratische Dysfunktionalität sowohl auf der Ebene des Einzelunternehmens als auch auf gesamtwirtschaftlichem Niveau, Konkurrenz, irrationale Verteilung der Produktionskapazität auf die einzelnen Unternehmen und Branchen, die Notwendigkeit der Bürokratie zur Überwachung innerhalb und außerhalb des Unternehmens, Armee, Polizei usw. verantwortlich macht.[74]
Schließlich stellt Castoriadis fest, dass in der modernen kapitalistischen Gesellschaft „ein ökonomisches Problem von ungeheueren Ausmaßen [besteht], das letztlich das Problem der ‚Aufhebung der Ökonomie‘ ist und mit der Möglichkeit einer Krise schwanger geht.“[75] Die Aufhebung der oben genannten Probleme durch einen radikalen Wandel der Gesellschaft würde nach Castoriadis eine nie da gewesene Rationalisierung der Wirtschaft bedeuten. Trotz der prinzipiellen Unmöglichkeit einer vollständigen Rationalisierung könnte dieser Prozess so weit gehen, dass ein qualitativer Wandel stattfände, der die Menschen in den Stand setzt, „die Wirtschaft bewusst zu lenken und mit Bewusstsein zu entscheiden – statt wie zur Zeit der Ökonomie unterworfen zu sein.“[76] Da niemand sagen kann, in wessen Dienst die Ökonomie steht, solange ihr Funktionieren undurchschaubar ist, geht die Forderung nach einer verständlichen Ökonomie der Forderung nach einer Ökonomie im Dienste aller logisch und politisch voraus; und daher gehört die Rationalisierung der Ökonomie zu den Voraussetzungen von Autonomie.[77]
Die Krise der kapitalistischen Gesellschaft besteht aber nicht ausschließlich in der Ökonomie, sondern sie umfasst als Gegensatz zwischen dem zwanghaften Ausschluss aus den Entscheidungen und der Forderung nach Teilhabe die ganze Gesellschaft mit all ihren Sphären. Castoriadis sieht die Arbeiterkontrolle als einen Lösungsansatz, der über die Arbeitssphäre hinausweist: „Eine Vergesellschaftungsform […], in welcher eine Teilhabe an allen Entscheidungen möglich wäre“[78], eine, „die in ihrer Organisation der Autonomie aller entgegenkommt“[79], wäre durch die Verallgemeinerung desselben Prinzips auf alle sozialen Bereiche möglich.
Die Krise der kapitalistischen Gesellschaft drückt sich Castoriadis zufolge vor allem in dem Widerstand und der Ablehnung der Menschen aus bzw. die Probleme und Konflikte, die dem Kapitalismus innewohnen, entwickeln sich erst durch den Widerstand und die Ablehnung der Menschen zu einer Krise:[80] „In der Krise und in dem Protest, den die heutigen Menschen gegen die gesellschaftlichen Lebensformen erheben, gibt es bedeutungsschwere Tatsachen – Autoritätsverschleiß, allmähliche Erschöpfung der ökonomischen Anreize, Machtverlust des instituierten Imaginären, Verweigerung der Annahme bloß ererbter oder überlieferter Regeln –, die sich nur einer dieser beiden zentralen Bedeutungen zuschlagen lassen: Entweder zeichnet sich darin eine Art fortschreitender Zersetzung des epochalen Lebensinhalts und das allmähliche Erscheinen einer Gesellschaft ab, die die Äußerlichkeit der Menschen untereinander und die Fremdheit jedes Einzelnen zu sich selbst ins Extrem treibt – eine übervölkerte Wüste, einsame Masse, ein klimatisierter Alptraum, mehr noch: eine allgemeine Anästhesie. Oder aber die in der Arbeit der Menschen hervortretende Tendenz zur Kooperation hilft uns, die kollektive Selbstverwaltung und Selbstverantwortung für alles Handeln zu verwirklichen.“[81]
Castoriadis begreift die revolutionäre Politik als eine Praxis, die sich an die Krise der bestehenden Gesellschaft anlehnt und sich für die Autonomie einsetzt. Im Gegensatz zu einer spekulativen Philosophie, die die Beherrschung der Totalität voraussetzt, schlägt Castoriadis die revolutionäre Praxis vor, die die gesellschaftliche Totalität zwar berücksichtigt, ohne den Anspruch zu erheben, sie vollständig zu beherrschen. Der Gegenstand der revolutionären Praxis – wie jeder anderen auch – lässt sich nicht vollständig rational bestimmen: Die revolutionäre Praxis hat „beständig mit der Totalität zu tun […] Denn der ‚Gegenstand‘ dieser Praxis ist stets als Totalität gegeben – und entzieht sich als solche.“[82] In der radikalen Unbestimmtheit des Gesellschaftlichen sieht Castoriadis kein Problem, denn die Tatsache, dass es unerschöpflich bzw. unvorhersehbar ist, ist kein Grund, die revolutionäre Praxis aufzugeben, sondern gerade die Voraussetzung dafür: „Die revolutionäre Praxis braucht also kein umfassendes und detailliertes Schema der zu errichtenden Gesellschaft auszumalen, sowenig sie ‚beweisen‘ oder bedingungslos garantieren müsste, dass diese Gesellschaft alle Probleme, die sich ihr jemals stellen, zu lösen vermag. Sie beschränkt sich vielmehr darauf zu zeigen, dass ihre Vorschläge keine Widersprüche enthalten und dass deren Verwirklichung – so weit man es überblicken kann – die Problemlösungskapazität der Gesellschaft ungeheuer anwachsen lassen würde.“[83]

5.9. Die autonome Gesellschaft
Wie ich oben dargestellt habe, versteht Castoriadis unter autonomer Gesellschaft eine Gesellschaft, die sich darüber bewusst ist, dass sie sich selbst instruiert, indem sie gesellschaftlich-imaginäre Bedeutungen schöpft, und „in ihrer Institution der Autonomie aller entgegenkommt.“[84] In diesem Kapitel werde ich die Konturen[85] der autonomen Gesellschaft zeichnen.
Die autonome Gesellschaft ist für Castoriadis eine staatslose Gesellschaft, d.h. eine Gesellschaft, die keinen „hierarchisch aufgebauten, von der Gesellschaft getrennten und diese beherrschenden bürokratischen Apparat“[86] hat. Dies bedeutet aber nicht, dass die autonome Gesellschaft über keine Machtinstitutionen verfügt; denn die Gesellschaft an sich zeichnet sich dadurch aus, dass die Individuen, die sie bilden, über Sachen entscheiden (müssen), die die Gesellschaft als Ganzes betreffen. Das Dilemma, das durch die Notwendigkeit politischer Entscheidungen, die alle betreffen, und die Heteronomie, die durch die Verselbstständigung derjenigen Institutionen, die im Namen der Gesellschaft diese Entscheidungen treffen, entsteht, löst Castoriadis dadurch, dass er das Politische zur Sache aller erklärt. Aus dem Politischen wird erst so Politik im castoriadisschen Sinne.[87]
Eine wirkliche Demokratisierung der Gesellschaft ist Castoriadis Zufolge synonym mit der Autonomie. Dabei orientiert er sich nicht an den modernen kapitalistischen Systeme, die er als „liberale Oligarchien“ bezeichnet, da sie trotz auf dem Papier existierender (unzureichender) demokratischer Verfahren nicht die Bedingungen der Teilnahme aller an politischen Entscheidungen gewährleisten. Castoriadis sieht in diesen Gesellschaften neben einer Bewegung in Richtung Angleichung bestimmter Bedingungen eine viel größere Tendenz zur Vergrößerung der Unterschiede. Mit ihrer hierarchisch-bürokratischen Organisationsweise einerseits, mit der Herrschaft des Marktes ähneln die modernen kapitalistischen Systeme Castoriadis zufolge vielmehr einem „vormundschaftlichen Staat“ im Sinne Tocquevilles, in dem sich die Mehrheit der Bevölkerung „politische Apathie“ und „konformistische Lethargie“ auszeichnet.[88] Das historische Beispiel, an dem sich Castoriadis orientiert, bieten vielmehr die griechische Antike und die Kämpfe und Revolutionen in Europa.
Im antiken Griechenland sieht Castoriadis den ersten Durchbruch in der Geschichte durch die Schöpfung von Politik, der Infragestellung der bestehenden Institutionen, und von Philosophie, der „Infragestellung der kollektiv zugelassenen Bedeutungen. So wurde laut Castoriadis zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die Abgeschlossenheit des Sinns [zumindest tendenziell] durchbrochen,“[89] und die Menschen haben im Politischen und in der Gesellschaft überhaupt ihr eigenes Werk wieder erkannt.[90]   
Mit dem Durchbruch im antiken Griechenland ging die Unterscheidung zwischen drei verschiedenen Sphären des menschlichen Handelns: oikos (die Privatsphäre), agora (die privat-öffentliche Sphäre) und ekklesia (die öffentlich-öffentliche Sphäre). Diese Unterscheidung, die die Institution der Gesellschaft zugleich trennt und verbindet, besitzt für Castoriadis universelle Gültigkeit. Die Demokratie ist Castoriadis zufolge das System, in dem die ekklesia „wirklich und wahrhaftig öffentlich wird.“[91]
Die tatsächliche Teilnahme aller an politischen Entscheidungen, die alle Mitglieder der Gemeinschaft betreffen, bedingt zugleich die Freiheit und Gleichheit aller. Unter Freiheit versteht Castoriadis „den größtmöglichen Bewegungs- und Handlungsspielraum, den die Institution der Gesellschaft dem Individuum gewährt.“[92] Freiheit in diesem Sinne ist für Castoriadis von Gleichheit im Sinne von einer „Gleichheit […] aller Rechte und Pflichten, und aller wirklichen Handlungsmöglichkeiten, die, für jeden, von der Institution der Gesellschaft abhängen“[93] nicht zu trennen; sondern sie setzen sich gegenseitig voraus: Ungleichheit bedeutet immer auch eine Ungleichheit an Macht, wobei die ungleiche Teilhabe an politischer Macht zur Einschränkung der Freiheit des einen Individuum durch das andere führt.
Die Gleichheit, die für Castoriadis stets mehr ist als die Gleichheit vor dem Gesetz,[94] bedeutet unter anderem, dass die Institution der Gesellschaft daran arbeiten muss, die Individuen dahin zu bringen, das ihre Meinungen in der Öffentlichkeit das gleiche Gewicht haben.
Die autonome Gesellschaft und das autonome Individuum können aus castoriadisscher Sicht nur zusammen existieren, daher ist es auch nicht dem Zufall geschuldet, dass die politische Idee und die politische Frage des autonomen Individuums und der autonomen Gemeinschaft dort zusammen erscheinen, wo es ein Bruch mit der instruierten Heteronomie entstanden sind. Aus diesem Grund ist die für die autonome Gesellschaft erforderliche Revolution ist „ungleich tief greifender und schwieriger als die Erstürmung eines Winterpalastes oder der Sieg in einem Bürgerkrieg“:[95] Sie schließt einen radikalen Wandel der politischen und ökonomischen Strukturen mit ein, geht aber weit darüber hinaus. Sie bedeutet zugleich, dass die Gesellschaft zum freien Denken fähige Individuen erzieht, ausbildet, erzeugt, die bereit sind, Verantwortung für sich selbst und für die Gesellschaft zu übernehmen; dass ein öffentlicher Raum kritischen Denkens und Diskutierens vorhanden sein muss: einen Wandel, der sich von dem Politischen über die Bildung oder Familie bis hin zur Ökonomie oder Erziehung erstreckt, um letztendlich die Gesellschaft als Ganzes zu erfassen.
So sehr bestimmte demokratische Strukturen und Verfahren unabdingbar sind für eine demokratische Gesellschaft als eine Macht, die keine äußere Begrenzung akzeptiert[96] und „sich permanent und explizit selbst instruiert“,[97] so wenig sind sie eine Garantie für ihre Entstehung bzw. für ihr Bestehen. Sie lebt nicht von einmal festgeschriebenen Regeln oder aufgebauten Strukturen, sondern von der autonomen Praxis der Menschen.
Die Selbstinstruierung der demokratischen Gesellschaft ist für Castoriadis „eine Bewegung ohne Ende“, die „nicht auf eine ‚perfekte Gesellschaft‘ […] abzielt, sondern auf eine, die so frei und gerecht wie möglich ist.“[98] Deshalb entwirft Castoriadis Überlegungen zur Autonomie, die übernommen, diskutiert, kritisiert, umgewandelt, aber auch verworfen werden können. Castoriadis‘ Entwurf stellt keine konkrete Utopie dar, sondern bleibt – wie der Titel Andrea Gablers Buches über socialisme ou barbarie bildhaft ausdrückt – antizipierte Autonomie.


[1] Ebd. S. 372.
[2] Vgl. ebd. S. 394.
[3] Cantor, Georg: Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre S. 481. In: Mathematische Annalen, Band 46, 1895. Zitiert nach: Castoriadis, Cornelius: Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft. S. 179.
[4] Castoriadis, Cornelius: Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft. S. 180. legein bedeutet unterscheiden, auswählen, aufstellen, zusammenstellen, zählen, sagen.
[5] „Sie [die cantorsche Definition] stellt gerade den undefinierbaren, wenn nicht gar zirkulären Charakter der mengentheoretischen Anfangsbegriffe (und jeder Logik oder Mathematik) heraus und zeigt, dass diese Theorie nur ‚mit einem Schlag‘ gesetzt werden kann oder ihre eigene Setzung voraussetzt: Um sie zu konstruieren, müsste man ihre Konstitution bereits unterstellen, Dieses wesentliche Merkmal, das ich als die objektive Reflexivität der Mengentheorie und Identitätslogik bezeichne (und das für jede ursprüngliche Institution kennzeichnend ist), wird im Verlaufe der weiteren Ausarbeitung verdeckt oder verschleiert. Im übrigen bringt die Cantorsche Definition in wunderbar gedrängter Form die grundlegenden und wesentlichen Operationen des legein zum Ausdruck; explizit oder implizit stellt sie Objekte und Relationen auf, die durch die Operationen des legein konstituiert werden sollen und die schon konstituiert sein müssen, damit diese Operationen möglich werden.“ (Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 375; Hervorhebung im Original).
[6] Ebd. S. 377.
[7] Ebd. Die Vereinigung setzt gleichzeitig die Möglichkeit der Dekomposition, der Teilung der Mengen in ihre Elemente, gegebenenfalls in ihre Untermengen.
[8] Ebd. S. 399.
[9] Ebd. S. 378.
[10] Ebd. S. 375.
[11] Ebd. S. 381.
[12] „Anlehnen“ bedeutet hier nicht „widerspiegeln“, „nachbilden“ oder von ihr vollkommen bestimmt werden, sondern ist eher als „sich inspirieren lassen“ zu verstehen.
[13] Ebd. S. 392.
[14] Ebd. 386.
[15] Ebd. S. 382. Unter ‚Magma‘ versteht Castoriadis „eine Vielheit, die nicht im üblichen Sinne des Wortes eine ist, die wir aber als eine kennzeichnen. Sie ist auch keine Vielheit in dem Sinne, dass wir tatsächlich oder potentiell abzählen könnten, was sie ‚enthält‘.“ (Ebd. S. 565). Nicht nur die Gesellschaft, sondern alles potentiell Gegebene ist Castoriadis zufolge von der Seinsart der ‚Magma‘. (Vgl. Ebd.).
[16] Castoriadis, Cornelius: Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft. S. 186.
[17] Ich werde im Rahmen dieser Arbeit nur die Bedeutung des radikalen Imaginären schildern, insofern das Verständnis dieses Begriffs für eine Beschäftigung mit der castoriadisschen Geschichts- und Gesellschaftsphilosophie unabdingbar ist. Da aber eine ausführliche Darstellung von und eine tiefgehende Auseinandersetzung mit Castoriadis‘ Theorien zur Psychoanalyse den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden, verzichte ich darauf. Für Castoriadis‘ Beitrag zur Psychoanalyse, die mit seinem Autonomieentwurf eng zusammenhängt: Castoriadis, Cornelius: Seele. In: ders.: Durchs Labyrinth, S. 27-104.
[18] Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 218.
[19] Der Begriff „Institution“ wird von Castoriadis im weitesten Sinne verwendet und schließt u.a. die Familie, die Gesetze, die Sprache, die Arithmetik, die Technologie sowie die „Werte“ einer Gesellschaft im Allgemeinen ein.
[20] Vgl. ebd. S. 257.
[21] Ebd. S. 199.
[22] Ebd. S. 232-233. (Hervorhebung im Original).
[23] Vgl. ebd. S. 201.
[24] Ebd. S. 200.
[25] Ebd. S. 206.
[26] Ebd. S. 207.
[27] Die Rolle des Symbolischen, insofern es das Handeln der Menschen betrifft, geht Castoriadis zufolge über die webersche Unterscheidung zwischen dem tatsächlichen Ablauf einer Handlung und ihrem idealtypischen Verlauf hinaus: „Es besteht ein Abstand zwischen dem tatsächlichen Handlungsverlauf und der jeweiligen ‚positiven Rationalität‘ (in demselben Sinne, wie man von ‚positivem Recht‘ spricht) der betreffenden Gesellschaft zu einem Zeitpunkt, also dem Grad des Verstehens, das diese Gesellschaft über die Logik ihres eigenen Funktionierens gewonnen hat – und es besteht ein weiterer Abstand zwischen dieser ‚positiven Rationalität‘ und der Rationalität schlechthin dieses Institutionensystems.“ (Ebd. S. 210). Für Webers Unterscheidung zwischen dem tatsächlichen Handeln der Individuen und dem idealtypischen Verlauf, siehe: Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. S. 9ff.
[28] Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 212.
[29] Ebd. S. 212-213.
[30] Vgl. ebd. S. 235.
[31] Ebd. S. 215.
[32] Vgl. ebd. S. 218.
[33] Vgl. ebd. S. 241.
[34] Ebd. S. 196.
[35] Ebd. S. 226.
[36] Ebd. S. 194.
[37] Ebd. S. 250.
[38] Ebd.
[39] Castoriadis zufolge ist es praktische unmöglich, die Entfremdung völlig aus der Welt zu schaffen, deswegen ist die vollkommen autonome Gesellschaft eher als ein Ziel zu begreifen, auf das man zubewegen kann.
[40] Ebd. S. 317.
[41] Castoriadis, Cornelius: Zeit und Schöpfung. S. 227ff. In: ders.: Das imaginäre Element und die menschliche Schöpfung. Ausgewählte Schriften Band 3. 2010 Lich(Hessen), S. 227-262.
[42] Platon: Timaios. S. 160. In: Sämtliche Werke Band 5, Hamburg 1959. Zitiert nach: Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 320.
[43] Für die Unterscheidung zwischen Unterschiedlichkeit und Andersheit, siehe XXXX
[44] Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 339.
[45] Castoriadis, Cornelius: Χώροι του ανθρώπου (Bereiche des Menschen). Athen 1995, S. 241. Zitiert nach: Tassis, Theofanis: Cornelius Castoriadis. Eine Disposition der Philosophie. S. 302.
[46] Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 354.
[47] Ebd.
[48] Ebd. S. 328. (Hervorhebung im Original).
[49] Ebd. S. 347. (Hervorhebung im Original).
[50] Castoriadis verfolgt die Mengen- und Identitätslogik im Allgemeinen auf Platon zurück. Platon betrachtet in Timaios die Zeit als eine objektive und messbare Ordnung, die der Welt gehört und die Ewigkeit imitiert. In diesem Sinne verortet Castoriadis den Ursprung der mengen- und identitätslogischen Zeitvorstellung in Platons Philosophie.
[51] Ebd. S. 362.
[52] Ebd. S. 360.
[53] Ebd. S. 162.
[54] Hannah Arendt bediente sich der aristotelischen Begriffe Praxis und Poiesis schon vor Castoriadis. während Praxis für sie ein wichtiges Moment des aktiven Lebens darstellt, trägt Poiesis die Gefahr der Entfremdung in sich. Vgl. Arendt, Hannah: Vita activa oder vom tätigen Leben. München 2010.
[55] Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Hamburg 2006.
[56] Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 123.
[57] Ebd. S. 127.
[58] Ebd.
[59] Vgl. Honneth, Axel: Eine ontologische Rettung der Revolution. Zur Gesellschaftstheorie von Cornelius Castoriadis. S. 150.
[60] Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 128. Auch wenn Castoriadis die Autonomie des oder der anderen als ein der Praxis immanentes Moment definiert, liefert er keine Erklärung für diese Immanenz. Daher kann man sagen, dass die Praxis bei Castoriadis per definitionem auf etwas ihr äußerliches bezogen ist, was mit dem aristotelischen Praxisbegriff nicht im Einklang steht. Gerade die Erklärung von Castoriadis dafür, warum persönliche Beziehungen wie Liebe oder Freundschaft keine Praxen sind, nämlich dass sie keinen ihnen äußerlichen Zweck haben, verdeutlicht diesen Unterschied klar. (Vgl. ebd.)
[61] Ebd.
[62] Ebd. S. 130.
[63] Vgl. Honneth, Axel: Eine ontologische Rettung der Revolution. Zur Gesellschaftstheorie von Cornelius Castoriadis. S. 150.
[64] Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 130.
[65] Ebd. S. 131.
[66] Ebd. S. 134.
[67] Castoriadis benutzt in Gesellschaft als imaginäre Institution „Sozialismus“ und „autonome Gesellschaft“ synonym. Später begann er wegen der negativen Konnotation des Begriffs „Sozialismus“ nur noch den Begriff „autonome Gesellschaft“ zu verwenden. Da das Aufgeben des Begriffs nicht mit einem inhaltlichen Wandel bezüglich der sozialistischen bzw. autonomen Gesellschaft verbunden war und mir die Beibehaltung des Begriffs „Sozialismus“ hilfreich erscheint, Castoriadis in der sozialistischen Tradition zu verorten, sehe ich keinen Grund, „Sozialismus“ durchgehend durch „autonome Gesellschaft zu ersetzen. Für eine ausführliche Darstellung der Gründe, die Castoriadis dafür angibt, warum er den Begriff „Sozialismus“ nicht mehr passend für die autonome Gesellschaft hält, siehe Fußnote XXXXXX.
[68] Vgl. Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 135ff.
[69] Castoriadis sah ursprünglich die industrielle Produktionssphäre als den Kern des Kapitalismus, gab aber diese Vorstellung mit der Begründung, dass im Gegensatz zu Marx‘ Einschätzung nicht nahezu alle Menschen zu Industrieproletariern werden, sondern die Anzahl der Industrieproletarier in hoch entwickelten kapitalistischen Ländern gemessen an der Masse der Lohnabhängigen systematisch sinkt, zugunsten der gesamten Arbeitssphäre auf. Das einzige Unterscheidungskriterium innerhalb der Lohnabhängigen besteht nach Castoriadis in ihrer Einstellung zum bestehenden System. (Vgl. Castoriadis, Cornelius: Warum ich kein Marxist mehr bin. S. 49-52.)
[70] Castoriadis betrachtet diesen Konflikt als im bestehenden Rahmen unlösbar, geht aber nicht davon aus, dass die Krise des kapitalistischen Systems nicht zwangsläufig zu dessen Ende führen muss. Die Alternative zur Überwindung des Kapitalismus als einer gesellschaftlichen Totalität und dessen Krise besteht nach Castoriadis darin, dass die kapitalistische Gesellschaft mit ihrer Krise weiter existiert.
[71] Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 137.
[72] Ebd. S. 139.
[73] Ebd. S. 142.
[74] Vgl. ebd. S. 144-145.
[75] Ebd. S. 145.
[76] Ebd. S. 147.
[77] Vgl. ebd. S. 148.
[78] Ebd.
[79] Ebd. S. 162.
[80] Ebd. S. 167ff.
[81] Ebd. S. 169. (Hervorhebung im Original).
[82] Ebd. S. 151.
[83] Ebd. S. 154. Castoriadis‘ Meinung, dass die revolutionäre Politik lediglich nachzuweisen hat, dass ihre Vorschläge keine inneren Widersprüche haben, und seine Distanzierung vom Szientismus, indem er die Beweislast bezügliche einer zukünftigen Revolution ablehnt, decken sich mit der Theorie des italienischen Anarchisten Errico Malatesta über „Anarchismus und Wissenschaft“. (Vgl. Malatesta, Errico: Anarşizm ve Bilim. In: Richards, Vernon (Hrsg.): Bir İtalyan Anarşisti. Malatesta. Hayatı ve Düşünceleri. Istanbul 1999, S. 26-35. )
[84] Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 162.
[85] Das Wort ‚Kontur‘ ist von mir bewusst gewählt, denn Castoriadis liefert die autonome Gesellschaft betreffend kein Fertigmodell, sondern begnügt sich mit prinzipiellen Überlegungen.  
[86] Castoriadis, Cornelius: Demokratie als Verfahren und Demokratie als System. S. 43-44. In: ders.: Autonomie oder Barbarei. Ausgewählte Schriften Band 1. Lich (Hessen) 2006, S. 43-67.
[87] Das ‚Politische‘ gibt es laut Castoriadis in jeder Gesellschaft und ist „die – explizite, implizite, manchmal kaum wahrnehmbare – Dimension, die mit der Macht zu tun hat, nämlich die instruierte Instanz (oder die Instanzen), die verbindliche Anweisungen erteilen kann und die stets und explizite Weise das umfassen muss, was wir eine richterliche Gewalt und Regierungsgewalt nennen.“ (Ebd. S. 43). Der castoriadissche Politikbegriff hat dagegen einen normativen Charakter: „[D]ie Politik ist als eine Arbeit zu betrachten, die alle Mitglieder der betreffenden Gemeinschaft angeht, die die Gleichheit aller voraussetzt und darauf abzielt, sie in die Tat umzusetzen – folglich eine Arbeit der Veränderung der Institutionen in Richtung Demokratie.“ ( Ebd. S. 48).
[88] Vgl. Castoriadis, Cornelius: Welche Demokratie? S. 73ff.
[89] Castoriadis, Cornelius: Demokratie als Verfahren und Demokratie als System. S. 47.
[90] Castoriadis schreibt ausdrücklich, dass er die Athener Demokratie nicht zum Vorbild erklärt, sondern das antike Griechenland deshalb wichtig ist, weil „dort Formen aufgetaucht sind, die uns immer noch zum Nachdenken bringen (können) und uns vor allem zeigen, dass in der Politik bestimmte Formen demokratischer Machtausübung möglich und durchführbar sind.“ (Castoriadis, Cornelius: Welche Demokratie? S. 70).
[91] Castoriadis, Cornelius: Demokratie als Verfahren und Demokratie als System. S. 51. In einem totalitaristischen System wird alles von der ekklesia vereinnahmt, wobei sie auch nicht öffentlich, sondern das Privateigentum des totalitären Machtapparats ist. Die traditionellen Absolutismen respektierten die Unabhängigkeit des oikos, aber mischten sich in die agora ein; während die ‚liberalen Oligarchien‘ die ekklesia größtenteils privatisieren. (Vgl. ebd.)
[92] Castoriadis, Cornelius: Sozialismus und autonome Gesellschaft. S. 196. (Hervorhebung im Original).
[93] Ebd. (Hervorhebung im Original).
[94] Eine auf diese Weise beschränkte Gleichheit, wie z.B. das Recht ein Unternehmen zu gründen, wird von der Institution der Gesellschaft für die Mehrheit zur Farce gemacht. Anatole France kritisierte diese Art der ‚Gleichheit‘ mit folgenden Worten: „Die großartige ‚Gleichheit vor dem Gesetz‘ verbietet den Reichen wie den Armen, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln oder Brot zu stehlen.“ (France, Anatole: Die rote Lilie. München 2003.)
[95] Castoriadis, Cornelius: Welche Demokratie? S. 106.
[96] Dies gilt freilich abgesehen von natürlichen Grenzen o.ä., die die Instituierung der Gesellschaft betreffen, und bedeutet die Selbstbeschränkung durch gewisse Grundsätze wie z.B. Menschenrechte. (Vgl. ebd. S. 75.)
[97] Ebd.
[98] Castoriadis, Cornelius: Demokratie als Verfahren und Demokratie als System. S. 48.