Mittwoch, 19. Januar 2011

TEIL 10

4.3.3. Die Bedeutungen und die gesellschaftliche Kohärenz
Die Bedeutung ist für Castoriadis das Moment, das eine Gesellschaft oder Epoche durch sämtliche kausale Verknüpfungen hindurch und darüber hinaus erkennbar macht und die der Gesellschaft oder Epoche charakteristische Totalität ausmacht.[1]  
In diesem Sinne sind die Bedeutungen, die „als die simultane Existenz einer unbegrenzten Menge von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, die sozusagen mit einem Schlage gegeben sind“,[2] erscheinen, nicht nur auf keine Ursachen zurückzuführen, aber sie sind untrennbar in die Kausalzusammenhänge verwoben und verleihen ihnen einen Sinn.[3] Die in einem System existierenden Bedeutungen stehen Castoriadis zufolge in einem mit dem kausalen nicht zu vergleichenden Verhältnis, das als eine Art Kohärenz aller Bedeutungen, die „Gesamtbedeutung des Systems“ zu verstehen ist: „Alles spielt sich so ab, als wäre diese Gesamtbedeutung des Systems irgendwie vorab gegeben; als wären die Ursachenketten von ihr ‚vorherbestimmt‘ und überdeterminiert. Es scheint, als hätte sie die Macht über die kausalen Verknüpfungen, als könnte sie Resultate im Einklang mit einer vorgefassten ‚Absicht‘ hervorbringen lassen – wobei hier natürlich nur im metaphorischen Sinne von ‚Absicht‘ die Rede sein kann, weil sie niemandem zuzuschreiben ist.“[4]
Die das gesellschaftliche Leben bestimmenden Regeln sind selbst ein Bestandteil der gesellschaftlichen Kohärenz einer Gesellschaft und lassen sich nicht auf etwas außerhalb dieser Gesellschaft liegendes zurückführen.[5] Auch wenn die analytische Untersuchung einer Gesellschaft größtenteils durch die Einführung von Kausalverhältnissen erfolgt und das Rätsel der gesellschaftlichen Kohärenz sich dadurch beträchtlich vermindern lässt, wird das Problem der gesellschaftlichen Kohärenz darin nicht erschöpfend beantwortet, die kausalen Reduktionen „legen schließlich nur dessen Gerüst frei.“[6] Die kausalen Verkettungen, die in einer Gesellschaft existieren, verbinden einzelne Handlungen und Ereignisse, die sich in einem vorgegebenen Rahmen abspielen. Die Frage nach diesem vorgegebenen Rahmen, der sich aus dem gesellschaftlichen Leben als konkreter Totalität und einer Gesamtheit expliziter und impliziter Regeln, d.h. einer organisierenden Struktur zusammensetzt, kann Castoriadis zufolge auch nicht durch den Verweis auf eine unendliche Ursachenkette beantwortet werden, weil so ein Erklärungsmodell eine anfängliche Kohärenz aller an diesen Prozessen beteiligten Faktoren voraussetzen müsste. Schließlich bleibt die Tatsache, dass nur kohärente Gesellschaften beobachtbar sind, für Castoriadis im Rahmen einer deterministischen Geschichtsauffassung unerklärbar. 
Die Frage nach der Rolle der Bedeutung in der Geschichte lässt sich für Castoriadis durch die Analyse der Kohärenz einzelner Gesellschaften nicht erschöpfend beantworten. Zusätzlich muss sie auch in Bezug auf die Sukzession historischer Gesellschaften gestellt werden. Ebenso wie bei der Untersuchung bestehender Gesellschaften ist die kausale Zurückführung auch für die Geschichtsforschung unabdingbar. Dennoch bedeutet die Reduktion des geschichtlichen Materials auf ein deterministisches Schema eine nachträgliche Rationalisierung: „Das geschichtliche Material, in dem wir unweigerlich artikulierten Sinn, wohlbestimmte Entitäten von beinahe individueller Gestalt sehen […], hat selbst unsere Vorstellung von dem geprägt, was historischer Sinn und was eine historische Gestalt ist. Diese Ereignisse selbst haben uns gelehrt, was ein Ereignis ist, und die Vernünftigkeit, die wir nachträglich darin finden, ist nur dann verwunderlich, wenn wir vergessen haben, dass wir sie zuvor von ihnen abgezogen haben.“[7] Aber auch die nachträgliche Rationalisierung klärt das Problem nur teilweise. Castoriadis sieht die Geschichte ständig von Tendenzen beherrscht, die eine Art innere Logik von Prozessen ausmachen, die einer Bedeutung bzw. einem Bedeutungskomplex einen zentralen Platz zuweist und Kausalreihen ohne inneren Zusammenhang miteinander verknüpft. Castoriadis zufolge gibt es Bedeutungen, die über den unmittelbaren, tatsächlich erlebten Sinn hinausgehen und von Kausalprozessen getragen werden, die selbst entweder keine oder nicht dieselbe Bedeutung haben.[8]
Aus castoriadisscher Sicht ist die marxsche Geschichtsphilosophie auch hinsichtlich der Rolle von Bedeutungen in der Geschichte problematisch: Von Marx werden zwar die Bedeutung und ihre Rolle in der Geschichte anerkannt, indem er an den Gedanken fest hält, dass historischen Ereignissen und Epochen Bedeutungen zugeordnet werden können, jedoch besteht er gleichzeitig darauf, dass die Bedeutungen vollständig auf die Ebene der Ursachen zurückgeführt werden können. Andererseits ist die hegelsche „List der Vernunft“ auch in Marx‘ Werk stets präsent, tritt allerdings als eine Art technisch-ökonomische Vernunft der Gesamtgeschichte – um es mit Lukács‘ Worten auszudrücken: als die „wirklich konkret aufgezeigte Vernunft“[9] – auf. Die technisch-ökonomischen Faktoren werden zum Träger der marxschen Vernunft der Geschichte gemacht, indem die Produktionsmittel in einem dialektischen Verhältnis mit den Produktionsverhältnissen, und diese wiederum zusammen mit den ersteren in einem dialektischen Verhältnis mit dem sogenannten Überbau die Geschichte in Richtung Kommunismus bewegen, wobei die zweite Dialektik in der ersten vollständig aufgeht. Dabei besitzen die Produktivkräfte einen Sinn, der stets über sie hinausweist und nur transzendental – in Bezug auf die Gesamtbedeutung der Geschichte, d.h. die Entstehung des Kommunismus, begriffen werden kann.
Was ich oben in Bezug auf die gesamte Menschheitsgeschichte geschildert habe, zeigt sich Castoriadis zufolge am Beispiel der marxschen Idee einer objektiven Dynamik der unüberwindbaren ökonomischen Widersprüche des Kapitalismus „noch präziser“ und „frappierender“, weil diese Idee von einer detaillierten Analyse des kapitalistischen Wirtschaftssystems gestützt wird und dabei eine Reihe von negativen Tendenzen totalisiert werden. Die ökonomischen Kausalketten, die den Kapitalismus in die Krise treiben und somit den Übergang in die kommunistische Gesellschaft einleiten, stellen für Castoriadis „die Chimäre einer mustergültigen Vernünftigkeit des Unvernünftigen, das philosophische Rätsel einer Welt des Nicht-Sinns, die – wohin man blickt – Sinn schüfe und endlich alle unsere Wünsche in Erfüllung gehen ließe“[10], dar.
Die marxsche Geschichtsphilosophie scheitert letztendlich an ihrem eigenen Anspruch, die Philosophie der Geschichte zu überwinden und eine naturgeschichtliche Analyse der Menschheitsgeschichte zu sein, und sie selbst ist und bleibt Geschichtsphilosophie. Darüber hinaus sieht Castoriadis in der „historischen Notwendigkeit“ des Fortschritts im Sinne einer Kausalkette, die die historische Bewegung lenkt, philosophisch keinen Unterschied zur hegelschen Vernunft.[11] Sowohl bei der hegelschen als auch bei der marxschen Geschichtsphilosophie handelt es sich nach Castoriadis um eine theologische Entfremdung des Menschen im Sinne einer Vorsehung, die die Geschichte in Gang gesetzt hat.[12]
Die Vermischung von Kausal- und Sinnebenen in der marxschen Geschichtsphilosophie stellt für Castoriadis einen inneren Widerspruch dieser dar: „Indem [Marx] verlangt, alles in kausalen Begriffen zu fassen und gleichzeitig in Sinnbegriffen zu denken; indem er behauptet, die Geschichte sei eine einzige ungeheuere Kausalkette, die zugleich eine Sinnkette sei, verschärft er die Spannung zwischen beiden Polen derart, dass das Problem keiner rationalen Behandlung mehr zugänglich ist.“[13]


[1] Vgl. ebd. S. 79.
[2] Ebd.
[3] Vgl. Ebd. S. 80.
[4] Ebd. S. 79.
[5] Vgl. ebd. S. 82.
[6] Ebd. S. 81.
[7] Ebd. S. 87-88.
[8] Vgl. ebd. S. 89. Als Beispiel kann man die Entstehung der Bürokratie in der UdSSR betrachten: „Es sieht ganz so aus, als hätte die moderne Welt die Bürokratie wie einen Keim in sich getragen – und als wäre ihr jedes Mittel recht gewesen, diesen Keim sprießen zu lassen, selbst solche Mittel, die dazu auf den ersten Blick kaum geeignet erscheinen: nämlich der Marxismus, die Arbeiterbewegung und die proletarische Revolution.“ (Ebd. S. 87.)
[9] Interessant ist es, dass auch Lukács in der marxschen Geschichtsphilosophie eine Vernunft der Gesamtgeschichte entdeckt, welche die hegelsche „List der Vernunft“ ersetzt: Die ‚List der Vernunft‘ [kann] nur dann mehr [sein] als eine Mythologie […], wenn die wirkliche Vernunft aufgefunden und wirklich konkret aufgezeigt ist. Dann ist sie eine geniale Erklärung für die noch nicht bewussten Stufen der Geschichte.“ (Lukács, Georg: Geschichte und Klassenbewusstsein. Berlin 1970, S. 162.)
[10] Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 91.
[11] Ebd.
[12] Vgl. ebd. Castoriadis entwickelt diesen Gedanken in Die Frage der Geschichte der Arbeiterbewegung weiter: „‚Was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat sich einstweilen vorstellt‘, das ‚Unmittelbare‘ – nennen wir es beim Wort: das Phänomen oder die Erscheinung – verdeckt auch hier, wie überall, das Sein oder das Wesen, das von der Notwendigkeit (hier als ‚geschichtlicher‘ Zwang präsentiert) nicht zu trennen und der Gegenstand eines Wissens aus notwendigen Schlüssen ist. Einzig und allein die Theorie eröffnet den Zugang zu diesem Wesen, ebenso wie zur Interpretation der mehr oder weniger zufälligen Erscheinungen – wie zum Beispiel der ‚Vorstellung‘, die sich die Arbeiter von dem machen, was sie wollen –, die mit ihm verbunden und ihm letztendlich untergeordnet sind; sie allein erlaubt es, zu erkennen, ob das Proletariat, indem es dieses oder jenes tut, unter dem Einfluss bloßer ‚Vorstellungen‘ handelt oder unter dem Zwang seines Seins. In welchem Moment kann man dann aber von der Autonomie oder der Kreativität des Proletariats sprechen? In keinem, und am allerwenigsten im Moment der Revolution, da diese für das Proletariat genau der Moment absoluter ontologischer Notwendigkeit ist, in dem es von der Geschichte endlich ‚gezwungen‘ wird, sein Sein zu offenbaren – das ihm selbst bis dahin unbekannt bleibt, das aber andere an seiner Stelle kennen. […] Die praktische Verlängerung der spekulativen Haltung wird sich ganz von selbst ergeben und – die Worte wechseln mit der Epoche – am Ende wird der einstige Philosophenkönig sich Koryphäe der revolutionären Wissenschaft nennen.“ (Castoriadis, Cornelius: Die Frage der Geschichte der Arbeiterbewegung. S. 17-18. Hervorhebung im Original.)
[13] Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 91.

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