Dienstag, 4. Januar 2011

TEIL 4


4.1.1. „Die Erhöhung der Ausbeutungsrate“
Aufgrund der ökonomischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, vor allem der Entstehung eines relativen Wohlstands und der Konsumgesellschaft sah Castoriadis die marxsche These, dass der Kapitalismus die Verelendung des Proletariats, Zunahme der Arbeitslosigkeit und eine Verlangsamung der Produktivkraftentwicklung mit sich bringen müsse,[1] als empirisch widerlegt.[2]
Aus diesem Grund, aber auch wegen ihrer großen Bedeutung im marxschen Werk widmete sich Castoriadis der Kritik der marxschen Theorie der „Erhöhung der Ausbeutungsrate“. Diese Theorie dient der marxschen politischen Ökonomie einerseits als wichtiges Argument hinsichtlich des Grundwiderspruchs des Kapitalismus (oder direkte Folge jenes Widerspruchs in der Argumentationskette), andererseits als Begründung der zukünftigen Zunahme der Intension des Klassenkampfs.
Die Ausbeutungsrate wird von Marx als das Verhältnis zwischen dem Mehrwert (m) und dem variablen Kapital (v) definiert. Marx behauptet, dass der Quotient m/v mit der Zeit zunimmt, da er vom Realprodukt einer Arbeitsstunde und dem Reallohn, der durch den Wert der Arbeitskraft bestimmt wird, abhängt.[3] Seinerseits wird der Wert der Arbeitskraft durch die zu ihrer Produktion, Erhaltung und Reproduktion notwendigen Güter definiert.[4] Die Menge jener Güter gilt bei Marx als „Lebensstandard der Arbeiterklasse“. Da aber die technologische Entwicklung das Realprodukt einer Arbeitsstunde ständig steigert, während der Reallohn konstant bleibt, wird der Ausbeutungsgrad höher. Mit diesem „Gesetz“ begründet Marx, dass im Kapitalismus langfristig die Tendenz der Verelendung der Arbeiterklasse herrscht.[5]   
In der marxschen Ökonomietheorie ist der Wert der Arbeitskraft, „gleich dem jeder andren Ware, […] bestimmt durch die zur Produktion, also auch Reproduktion, diese eigentümlichen Artikels notwendige Arbeitszeit.“[6] Genau hier knüpft Castoriadis mit seiner Kritik an: Marx behandelt die Arbeiter, so Castoriadis, in der Theorie als das, „als was sie der Kapitalismus in der Produktionspraxis behandeln würde, aber nicht kann – nämlich als bloße Objekte.“[7] Tatsächlich besitzt die Arbeitskraft in der marxschen Theorie einen Tauschwert, der durch die objektiven Marktgesetze ermittelt wird, und einen Gebrauchswert, dessen Nutzung allein vom Willen der Kapitalisten und den von ihnen in der Produktion eingesetzten Methoden abhängt.[8] Zwar sieht Castoriadis im Kapitalismus die Tendenz, Menschen in bloße Objekte zu verwandeln, diese könne sich jedoch niemals vollständig durchsetzen. Jedoch beruhe die marxsche politische Ökonomie auf der Grundvoraussetzung, dass „in der kapitalistischen Ökonomie die Menschen, Proletarier wie Kapitalisten, in der Tat vollends in Dinge verwandelt, verdinglicht werden; dass sie dem Wirken ökonomischer Gesetze unterworfen sind, die sich von Naturgesetzen in nichts unterscheiden außer darin, dass sie die ‚bewussten‘ Handlungen der Menschen als unbewusstes Werkzeug zu ihrer Durchsetzung verwenden.“[9]
Nicht nur die Höhe der Löhne ist Gegenstand der Klassenkämpfe, sondern auch die Arbeitsstunde. Die Organisation der Produktion wird nicht nur von dem Streben der Kapitalisten nach einer unaufhaltsamen Leistungssteigerung bestimmt, sondern die Arbeiter wehren sich sowohl privat wie kollektiv gegen dieses Streben. Auch wenn ökonomische Faktoren eine wichtige Rolle bei der Bestimmung des Leistungs- und Lohnniveaus spielen, trägt der Kampf um die in einer Arbeitsstunde tatsächlich geleistete Arbeit und den Lohn, den die Arbeiter als Gegenleistung bekommen, zu ihrer Bestimmung bei. Diese lassen sich deshalb von einem „objektiven Gesetz“ nicht bestimmen.
Anders als in „das Kapital“ von Marx geschildert, sei die Produktion keineswegs nur vom Willen der Kapitalisten abhängig, sondern der individuelle und kollektive Kampf der Arbeiter sei einer der wichtigsten Faktoren, die den Tausch- und Gebrauchswert der Arbeitskraft bestimmen. Dieser Faktor macht für Castoriadis das Besondere an der Arbeitskraft aus, worin ihr Unterschied zu den normalen Waren besteht. Da der Wert der „Ware Arbeitskraft“ nicht ausschließlich mit Marktmechanismen bestimmt werden kann, gelte das marxsche „Gesetz“ nur abstrakt – von Klassenkämpfen, sogar dem Faktor „Mensch“ gänzlich abgesehen.


[1] „Diese wenigen Andeutungen würden genügen, um zu zeigen, dass die ganze Entwicklung der modernen Industrie die Waagschale immer mehr zugunsten des Kapitalisten und gegen den Arbeiter neigen muss und dass es folglich die allgemeine Tendenz der kapitalistischen Produktion ist, den durchschnittlichen Lohnstandard nicht zu heben, zu senken oder den Wert der Arbeit mehr oder weniger bis zu seiner Minimalgrenze zu drücken.“ (Marx, Karl: Lohn, Preis und Profit. S. 151. In: Marx-Engels-Werke Band 16. Berlin 1989, S. 103-152.)
[2] Es gibt zwei unterschiedliche Theorien, die in diesem Zusammenhang von späteren Marxisten vertreten wurden: Die „absolute Verelendungstheorie“, die vor allem in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts als „Revolutionstheorie“ verstanden wurde, besagt, dass der Lebensstandard der Arbeiterklasse absolut sinken muss, während die „relative Verelendungstheorie“ behauptet, dass der Anteil der Arbeiterklasse am gesellschaftlichen Reichtum – trotz ihres steigenden Lebensstandards – sinken muss. Beide Theorien sind auf direkte Marx-Zitate zurückzuführen. Marx vertrat im „Kommunistischen Manifest“ eine absolute Verelendungstheorie, die er im ersten Band des „Kapitals“, der neunzehn Jahre später erschien, zugunsten der relativen revidierte. (Vgl. Heinrich, Michael: Kritik der politischen Ökonomie. Stuttgart 2005, S. 122ff.) Castoriadis vertritt die Position, dass beide Theorien sich als falsch erwiesen haben. (Vgl. Castoriadis, Cornelius: Die Revolutionäre Bewegung im modernen Kapitalismus. S. 45-46.)
[3] Vgl. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Band 1. Paderborn 2007, S. 189ff.
[4] Vgl. Ebd. S. 151-152.
[5] Vgl. Ebd. S. 189ff.
[6] Ebd. S. 151.
[7] Castoriadis, Cornelius: Die revolutionäre Bewegung im modernen Kapitalismus. S. 46.
[8] Folgendes Marx-Zitat könnte als Beispiel dienen: „Die Arbeitskraft ist also eine Ware, nicht mehr, nicht minder als der Zucker. Die erste mißt man mit der Uhr, die andre mit der Waage.“ (Marx, Karl: Lohnarbeit und Kapital. S. 399. In: Marx-Engels-Werke Band 6. Berlin 1977, S. 397-423.)
[9] Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. S. 30-31.

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