Sonntag, 30. Januar 2011

schlusswort

6. Schlusswort
Wir verdanken Castoriadis nicht nur eine radikale Kritik der marxschen Theorie, sondern auch den Versuch, neue Wege zu erschließen, die zur Verwirklichung der menschlichen Emanzipation führen könnten, die nun die Gestalt einer autonomen Gesellschaft annehmen soll.
Der Autonomiegedanke zieht sich wie ein roter Faden durch das castoriadissche Werk, verbindet sein frühes Werk, das als eine Selbstkritik des Marxismus begann, mit seiner späteren, kategorischen Marxkritik, seinen ontologischen Überlegungen und seiner Praxisphilosophie, welche meines Erachtens als einen konsequenten und positiven Ausbau der castoriadisschen Marxkritik zu betrachten sind.
Meine These ist, dass das castoriadissche Werk durch die Würdigung des Politischen, das bei Marx auf zu einem Produkt des Ökonomischen degradiert wird, und die zentrale Stellung der Machtfrage als einer explizit politischen einerseits die Relevanz des politischen Handelns betont, andererseits eine neue Perspektive für emanzipatorisches politisches Handeln aufmacht.
An dieser Stelle möchte ich anhand der Erkenntnisse, die im Laufe der Arbeit gewonnen wurden, darstellen, welche emanzipatorischen Momente durch das castoriadissche Werk freigesetzt wurden.
Im ersten Kapitel, das von den Erfahrungen des jungen Castoriadis in Griechenland handelt, habe ich die Quellen dargestellt, die Castoriadis die ersten Denkanstöße für eine Kritik zuerst am Stalinismus, folgend am traditionellen Marxismus und schließlich an der marxschen Theorie überhaupt gaben.
In seiner Jugend in Griechenland entwickelte Castoriadis ein Interesse für Philosophie und Politik, u.a. für Marx, Weber, Kant, Husserl, Platon und Aristoteles. Die Gedanken dieser Denker haben Castoriadis nachhaltig beeinflusst und sind stets in sein Werk eingeflossen. Dies bedeutet natürlich nicht, dass Castoriadis‘ philosophisches Schaffen eine einfache Addition der Werke jener großer Denker wäre, deren Arbeiten ihn ein ganzes Leben lang beschäftigten: Ihre Gedanken, die sich in seiner Philosophie wiederfinden lassen, dachte Castoriadis weiter, kritisierte und wandelte sie um, verwarf sie oder entwickelte seine eigene Philosophie in Auseinandersetzung mit diesen.
Ausschlaggebend für seine radikale Kritik an Marx waren jedoch vielmehr seine praktischen Erfahrungen: Sein gescheiterter Reformversuch innerhalb der Kommunistischen Partei, der ihn den bürokratisch-dogmatischen Charakter der kommunistischen Parteien erkennen ließ, die er später als totalitäre Mikrogesellschaften bezeichnete; aber auch die Verfolgung anders denkender Linker durch den bewaffneten Arm der Kommunistischen Partei und schließlich der gescheiterte stalinistische Machtergreifungsversuch ließen Castoriadis die kommunistischen Parteien in einem anderen Lichte sehen: „Die Beobachtung und Erfahrung der stalinistischen Bewegung während der Besatzung zeigte mir immer klarer ihren totalitären Charakter. Ihre organisatorische Struktur war (und bleibt noch heute überall) völlig totalitär. Keine interne Diskussion war möglich und keine andere Meinung oder irgendeine Art von Opposition innerhalb oder außerhalb der Partei wurde toleriert. Diese Tatsache brachte mich auf den Gedanken, dass die kommunistische Partei keinesfalls mit einer Reformpartei gleichzusetzen war. Ein solcher totalitärer Parteimechanismus (der gleichzeitig die absolute Kontrolle über wichtige militärische Kräfte innehatte, die genauso totalitär organisiert waren) enthielt ‚seit Herstellung‘ einen angeborenen Automatismus, eine unaufhaltsame Tendenz zur Machtergreifung und zur totalitären Machtausübung.“[1] Der Kern seiner Stalinismuskritik war entstanden.
Im zweiten Kapitel, „Socialisme ou Barbarie“, habe ich geschildert, wie Castoriadis ausgehend von seiner Stalinismuskritik eine allgemeine Bürokratiekritik als eine dem Kapitalismus innewohnende Idealtendenz entwickelte. Beinhaltete die Stalinismuskritik, die Castoriadis aufgrund seiner Erfahrungen in Griechenland und der politischen Situation in Osteuropa formuliert hatte, die Frage nach der Organisierung der Macht, so tritt die Machtfrage in seiner Theorie des bürokratischen Kapitalismus, der sowohl für die realsozialistischen Regimes im „Osten“ als auch für die „liberalen Oligarchien“ im „Westen“ Gültigkeit beanspruchte, viel offener zu Tage. So formulierte Castoriadis z.B. den von Marx ökonomisch definierten Grundwiderspruch des Kapitalismus politisch um, indem er dem Kapitalismus einerseits die Tendenz, aus dem Menschen, dem Subjekt, durch den Ausschluss aus Entscheidungsprozessen in der Produktionssphäre ein Objekt – ein „Produktionsmittel“ zu machen, und andererseits die Angewiesenheit auf die Nicht-Vollendung jener Tendenz attestierte.
War die castoriadissche Bürokratietheorie anfangs an Max Webers und Marx‘ Theorien angelehnt, verschwanden die marxschen Elemente mit der Zeit in zunehmendem Maße.
Der zwar vor allem in der Produktionssphäre verortete, aber machtpolitische Grundwiderspruch des Kapitalismus führte zu einer Sozialismusdefinition als autonome Gesellschaft, in deren Zentrum die Frage nach der Organisierung der gesellschaftlichen Macht stand.
Castoriadis zufolge vermochte die marxsche Theorie auf die Bürokratiefrage als eine Machtfrage nicht zu antworten und schließlich durch die Feststellung, dass die Entstehung der Bürokratie nicht auf ökonomischem, sondern auf politischem Wege erfolgte und durch die Erweiterung der Teilung in „dirigeants“ und „executants“ in der Produktionssphäre auf die ganze Gesellschaft, sprengte Castoriadis den marxschen Bezugsrahmen.
Einerseits die Betonung des alltäglichen impliziten Widerstands der Arbeiter in der Produktionssphäre, andererseits die Anerkennung des revolutionären Potentials von sozialen Bewegungen (wie z.B. die Bewegungen der Jugendlichen und der Frauen, der Antimilitarismus und der Kampf der Minderheiten um Anerkennung und Rechte) durch die Erweiterung der Machtfrage auf die ganze Gesellschaft; machte aus der Politik eine alltägliche Sache, die alle Menschen betrifft. Das marxsche revolutionäre Subjekt, das Industrieproletariat, verlor dadurch seine zentrale Stellung in Castoriadis‘ Theorie. Das Aufgeben der Idee eines bestimmten revolutionären Subjekts und die Erklärung der radikalen Umwälzung der Gesellschaft zur Sache der Mehrheit der Menschen stellt meines Erachtens in gewisser Hinsicht eine Vorwegnahme der Entstehung der neuen sozialen Bewegungen ab Ende der 1960er Jahre dar.
Die obigen Überlegungen führten dazu, dass das Unternehmen, die praktisch-politischen Intentionen der marxschen Theorie durch eine entschlossene Preisgabe ihrer zentralen Grundprämissen zu retten, nicht mehr tragfähig war. So verabschiedete sich Castoriadis endgültig von der marxschen Theorie.
Im vierten Kapitel beleuchtete ich die castoriadissche Marxkritik. Da Castoriadis‘ Bruch mit dem Marxismus dadurch geschah, dass er zu dem Schluss kam, dass man sich entscheiden müsse, entweder Marxist zu bleiben oder aber dem Entwurf einer radikalen Umwandlung der Gesellschaft treu bleiben, baute Castoriadis seine Kritik an der marxschen Theorie aus, so dass eine Erneuerung des revolutionären Entwurfs durch die Feststellung der Sackgassen der marxschen Theorie möglich wurde.
Ich vertrete die These, dass die castoriadissche Kritik an den so genannten Gesetzen „der Erhöhung der Ausbeutungsrate“, „der Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals“ und „des tendenziellen Falls der Profitrate“ die Verfangenheit der marxschen Theorie in einer Denkweise offen legte, die der kapitalistischen Gesellschaft eigen ist. Der homo oeconomicus, in dem Castoriadis meines Erachtens zurecht den Zwillingsbruder der kapitalistischen Gesellschaft sieht, wird von Marx zum Menschen schlechthin erklärt. Die Behauptung, Menschen hätten bereits seit dem Beginn ihrer Geschichte gehandelt, um die Natur zu unterwerfen und immer mehr zu konsumieren bzw. immer mehr Reichtum anzuhäufen, lässt die Existenz unzähliger Gesellschaften außer Acht, die diesem Schema nicht entsprechen, und unterstellt dem Menschen eine Essenz, die durch die anthropologischen Untersuchungen schon zu Marx‘ Zeiten widerlegt wurde.
Des Weiteren zeigt Castoriadis auf, dass die marxsche Theorie da Invariablen sieht, wo Variablen sind: Die Abhängigkeit der Höhe der Löhne, folglich auch die des Lebensstandards der Arbeiter von darum geführten Kämpfen ist dabei nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite steht nämlich die Werttheorie: In der qualitativen Wertgleichheit der abstrakten Arbeit, in der Marx die Offenlegung einer bis zum Kapitalismus verborgen gebliebenen Realität entdeckt, sieht Castoriadis die Tendenz der kapitalistischen Gesellschaft, die Menschen in Dinge und die menschliche Arbeitskraft in eine Ware zu verwandeln.
Ich finde, dass die Kritik an den marxschen ökonomischen „Gesetzen“ deshalb von großer Bedeutung ist, weil diese durch das Primat der Ökonomie in der marxschen Theorie eine Schlüsselposition im marxschen Gesamtwerk innehaben. Sie werden objektiven Gesetzen hochstilisiert, aus denen heraus der Untergang des „Reiches der Notwendigkeit“ und die Geburt des „Reiches der Freiheit“ begründet werden soll. Dies macht meines Erachtens auch die marxsche Theorie und Philosophie der Geschichte unhaltbar, denn Marx weist dem menschlichen Handeln im Kapitalismus die Rolle eines bloßen Vollstreckers ökonomischer Gesetze zu und wenn die marxsche Analyse jener Gesetze fehlerhaft ist, bricht das ganze marxsche Gedankengebäude zusammen.
Die Stellung des menschlichen Tuns bleibt nach der marxschen Theorie im Grunde genommen immer dieselbe: Es sind nicht nur die „Gesetze“ des kapitalistischen Wirtschaftssystems, sondern die Entwicklung der Produktivkräfte bestimmt, wie das gesellschaftliche Leben auszusehen hat und wann ein Gesellschaftssystem, das sich bei Marx konsequenterweise hauptsächlich in Produktionsverhältnissen verkörpert, unterzugehen hat. Somit wird die Politik, sogar das menschliche Handeln überhaupt zu einem Affekt der ökonomisch-technischen Prozesse degradiert. Ich möchte hiermit die Wichtigkeit der Ökonomie und Technologie an sich nicht leugnen. Wie eine Gesellschaft ihren Reichtum produziert und distribuiert, sagt freilich viel über diese Gesellschaft aus, allerdings finde ich es äußerst problematisch einer gesellschaftlichen Sphäre eine den anderen übergeordnete, sie determinierende Rolle zuzuschreiben: Da verschiedene Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ständig aufeinander Einfluss nehmen, so dass eine kleine Veränderung in dem einen Bereich zu größeren Veränderungen in dem anderen führen kann, ist die ökonomische und technologische Entwicklung stets in das gesellschaftliche Ganze eingebettet.
Castoriadis‘ Ansatz, allen gesellschaftlichen Sphären eine relative Autonomie zuzuschreiben und das Verhältnis zwischen diesen nach jeweiliger Epoche bzw. Gesellschaft neu zu definieren, ist aus meiner Sicht angesichts der Existenz sich voneinander grundsätzlich unterscheidender Gesellschaften nicht nur die Vergangenheit betreffend, sondern noch heute erfolgsversprechender als der marxsche Basis-Überbau-Schema, da die Menschen – trotz des flächendeckenden Sieges der kapitalistischen Ökonomie – je nach Kultur[2] in unterschiedlichem Maße, aber niemals ganz im homo oeconomicus aufgehen. Castoriadis‘ Ansatz sieht auch vor, durch die Untersuchung verschiedener Sphären und ihr Verhältnis zueinander Tendenzen aufzuzeigen, die sich weiter entwickeln könnten, und die Menschen ihrer politischen Einschätzung jener Tendenzen entsprechend sie stärkend bzw.  bekämpfend intervenieren könnten. Dadurch, dass er die Entscheidung, welche Tendenzen sich überhaupt durchsetzen, letztendlich vom Handeln der Menschen abhängig macht, erkennt Castoriadis die Fähigkeit des Menschen zum freien Handeln an, das natürlich stets in ein gesellschaftliches Ganzes eingebettet ist und sich an das Vorfindliche anlehnt, ohne aus ihm heraus vollständig erklärt werden zu können, und dementsprechend spielt bei ihm der politische Raum eine viel größere Rolle als bei Marx.
Die antinomische Struktur der marxschen Theorie, auf die Castoriadis hinweist, wurde vor ihm bereits von Karl Korsch thematisiert. Allerdings unterscheidet sich Castoriadis‘ Theorie von der Sichtweise von Korsch darin, dass letzterer eine Synthese von dem szientistisch-spekulativen Moment und dem revolutionär-klassenkämpferischen Moment für möglich hält, während ersterer den Sieg des Szientistischen über das Revolutionäre interpretiert.
Wie ich oben dargestellt habe, sieht Castoriadis nicht nur in der marxschen Theorie einen Gegensatz zwischen den szientistisch-spekulativen und revolutionären Momenten, sondern er formuliert eine grundsätzliche Kritik an der abendländischen Philosophie, die von der Bestimmtheit des Seienden ausgeht, und plädiert für eine Neudefinition des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis.
Castoriadis verfasst in seinem Hauptwerk, „Gesellschaft als imaginäre Institution“, aber auch in weiteren Büchern und Aufsätzen seine ontologischen Überlegungen, die das Sein als Nicht-Bestimmt-Sein neu definieren und in der Geschichte nicht nur die Widerkehr des bereits Seienden, sondern auch die Genese des Neuen sehen, welche nicht auf das Vorfindliche zurückzuführen sei aber sich daran anlehne.
Da seiner Meinung nach sowohl das radikale Imaginäre, also die Fähigkeit des Menschen, sich das vorzustellen, was nicht ist, als auch die Irrationalität des Natürlichen jenseits der primären – d.h. dem Wahrnehmungsapparat des Menschen zugänglichen – natürlichen Schicht eine systematische und vollständige Theorie des Gesellschaftlich-Geschichtlichen unmöglich machen; schlägt Castoriadis vor, dass die (politische) Theorie einen Entwurfscharakter haben, d.h. sich ohne Anspruch auf vollständiges Wissen über das Objekt, aber auch über das Subjekt der Praxis entwickeln und offen sein soll, durch ständige Überprüfung aufgrund praktischer Erfahrungen korrigiert, umgewandelt, aber auch verworfen zu werden. Ohne an dieser Stelle die grundsätzliche Nicht-Bestimmtheit des Seienden nachweisen zu können,[3] vertrete ich die Meinung, dass alleine die Komplexität des Seienden – selbst wenn man annehmen würde, dass die Welt in Kausalbeziehungen aufgeht – jeglichen Anspruch auf vollständiges und systematisches Wissen über die Gesellschaft und die Geschichte lächerlich macht. Aus diesem Grund stellt das von Castoriadis vorgeschlagene Konzept meines Erachtens ein organisches Verhältnis zwischen Theorie und Praxis dar, das eine potentielle Lösung für zwei Probleme von großer Wichtigkeit bietet: Erstens die Herrschaft des Wissens gegenüber dem Tun, und zweitens den Dogmatismus. Was das erste Problem betrifft, kann man sagen, dass dadurch, dass die Theorie nicht mehr den Anspruch erheben könnte, ihren Gegenstand vollkommen durchleuchtet zu haben, würde es möglich, das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis heterarchisch neu zu definieren. Was den Dogmatismus angeht, bin ich der Meinung, dass alleine die Neudefinition des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis zur Lösung dieses Problems einen erheblichen Beitrag leisten würde. Darüber hinaus erleichtert eine Theorie, die nicht den Anspruch hat, ein seinen Gegenstand vollkommen erschöpfendes, rationales Ganzes zu bilden, auch die Erschließung neuen Wissens in das Bestehende. Die Konsequenzen des Gegenteils sind u.a. bei vielen dogmatischen Marxisten zu beobachten, die die marxschen Werke nahezu als heilige Schriften betrachten; in Situationen, in denen die marxsche Wahrheit (genauer ausgedrückt ihre Interpretation derer) nicht der Wirklichkeit entspricht, muss die Wirklichkeit so lange interpretiert werden, bis sie der Wahrheit entspricht.
Meines Erachtens ist sowohl die castoriadissche politische Philosophie als auch der von ihm vorgeschlagene Theorietypus ist weniger geeignet für dogmatisches Denken als der Marxismus. Dies drückt sich auch in der Sprache beider Denker: Castoriadis ‚meint‘, ‚glaubt‘ und ‚schlägt vor‘, während Marx ‚nachweist‘.
Der castoriadissche Entwurf der autonomen Gesellschaft entspricht meiner Meinung nach dem von ihm vorgeschlagenen Entwurfscharakter. Da Castoriadis eine gleichzeitige Veränderung des Subjektes der politischen Praxis, d.h. der Menschen, mit der Veränderung ihres Objektes, d.h. gesellschaftlicher Institutionen, vorsieht, verzichtet er darauf, seine Überlegungen zu Ende zu denken, zu konkretisieren, und belässt es bei grundsätzlichen Bestimmungen, die eine solche Gesellschaft ausmachen könnten. Der Entwurf einer Gesellschaft, die sich selbst instruiert, also eine nicht aufhörende Bewegung ist, wird dem schöpferischen Potential der Menschheit, die unterschiedlichste Gesellschaften hervorgebracht hat, einerseits, und der relativen Autonomie verschiedener gesellschaftlicher Sphären und der daraus folgenden Unmöglichkeit einer ewigen Lösung auf alle vorstellbaren Fragen, die das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen betreffen, andererseits viel mehr gerecht als die teleologische Vorstellung eines „Himmel auf Erden“, die am Ende der Geschichte  steht.
Abschließend möchte ich zusammenfassen, welche Momente für eine emanzipatorische und gesellschaftskritische Philosophie und Politik von Castoriadis‘ Marxkritik und Autonomieentwurf freigesetzt wurden: Erstens stellt das castoriadissche Werk eine Betonung der Relevanz des Politischen und eine Würdigung der Demokratie dar. Zweitens enthüllt seine Kritik an der marxschen Theorie den marxschen Szientismus, der von späteren Marxisten aufgegriffen wurde und die Dogmatisierung des marxschen Werkes bis hin zu einem nahezu religiösen Glauben ermöglichte, was wiederum neben weiteren Faktoren dem Verkommen der marxschen Theorie zu einer Legitimationsideologie repressiver Staaten beitrug. Drittens ermöglicht die Anerkennung der relativen Autonomie aller gesellschaftlichen Sphären und des sich je nach Gesellschaft bzw. Epoche unterscheidende Verhältnisses zwischen diesen eine realistischere Untersuchung der Geschichte bzw. der Gesellschaft einschließlich der heutigen. Viertens bieten die castoriadissche Ontologie, die die Nicht-Bestimmtheit des Seienden diagnostiziert, und die daraus folgende Praxisphilosophie, die das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis neu definiert, meines Erachtens potentielle Lösungen für zwei wichtige Probleme: die Herrschaft der Theorie über die Praxis und den Dogmatismus. Und schließlich steht der castoriadissche Entwurf der autonomen Gesellschaft als einer offenen Gesellschaft im Einklang mit dem schöpferischen Potential der Menschheit und der Unmöglichkeit einer ewigen Lösung aller das gesellschaftliche Leben betreffenden Fragen.


[1] Κορνήλιος Καστοριάδης, Το επαναστατικό πρόβλημα σήμερα, Εκδόσεις Ύψιλον, 1984, S. 11. Zitiert nach: Tassis, Theofanis: Castoriadis Cornelius: eine Disposition der Philosophie. S. 13.
[2] Unter „Kultur“ ist in diesem Zusammenhang  nicht nur die nationale oder regionale Kultur zu verstehen, sondern die unterschiedlichen Kulturen innerhalb einer Gesellschaft nach Klassen, Millieus usw. sind miteinbegriffen.
[3] Meines Erachtens ist Castoriadis‘ Versuch, nachzuweisen, dass das Seiende nicht im Rationalen aufgeht, ist in nicht lösbare methodische Schwierigkeiten verstrickt. Auf den ersten Blick scheint es so, dass die Entdeckung einer Seinsweise, die nicht in einem kausalen System aufgeht, Castoriadis‘ These nachweisen könnte; allerdings müsste man gleichzeitig nachweisen können, dass kein größerer kausaler Zusammenhang existiert, in den sich das entdeckte auf den ersten Blick irrationale Moment einschließen lässt. Dies gilt ebenfalls für dessen Gegenteil, d.h. die Behauptung, alles Seiende würde ein rationales Ganzes bilden. Mit einer Ausnahme: Meines Erachtens würde die einzige theoretisch mögliche Lösung dieses Problems darin bestehen, dass ein Kausalzusammenhang definiert wird, der alles Seiende enthält; da es aber praktisch eine Unmöglichkeit bleibt, das erschöpfende Wissen über alles Seiende zu besitzen, kann die Frage nach der Rationalität des Seienden nur spekulativ beantwortet werden.

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